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Begriffsjurisprudenz

From Wickepedia

Unter Begriffsjurisprudenz wird zweierlei verstanden, zum einen eine Methodenlehre der Rechtswissenschaft des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts, zum anderen eine auch heute anzufindende Form der Gesetzesauslegung, bei der allein aus den in einem Gesetz verwandten Begriffe Folgerungen abgeleitet werden.

In dem erstgenannten Sinne wird als Begriffsjurisprudenz – in einem heute eher abwertenden Sinne – die Methodenlehre der Rechtswissenschaften des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts bezeichnet. Geprägt wurde der Begriff von Rudolph von Jhering mit dessen Schrift Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Er zielte auf eine juristische Dogmatik ab, die Lösungen für die praktischen Problemen des Rechtsalltags bereit halten sollte. Statt einer „rezeptiven“ (übernehmenden), sollte eine „produktive“ (entscheidende) Jurisprudenz geschaffen werden. Herangezogen wurde die veränderte Denkweise in der Pandektistik insbesondere von Philipp Heck, der die Methodenlehre zur Interessenjurisprudenz ausbaute.

In einem zweitgenannten Sinne wird Begriffsjurisprudenz auch als gesetzliche Auslegungsmethode verstanden, die sich in rein formaljuristischer Herangehensweise am vorgegebenen Gesetzesbegriff und nicht an Sinn und Zweck des Gesetzes orientiert.

Herleitung

Durch den Einfluss, den Gottfried Wilhelm Leibniz auf Christian Wolff genommen hatte, beide waren bedeutende Philosophen der Frühaufklärung, drang aufgrund des steigenden Ansehens der empirischen Naturwissenschaften auch in die juristische Methodenlehre eine mathematisch-logische Denk- und Arbeitsweise ein. Christian Wolffs Werk Ius naturae methodo scientifico pertractatum wurde mit großer Wirkung rezipiert, weil er eine Idee davon entwickelt hatte, wie juristische Entscheidungen aus übergeordneten Allgemeinbegriffen und Obersätzen abgeleitet werden könnten. Wolff gilt insoweit, neben einer Vielzahl anderer Verdienste, als „Urvater“ der Begriffsjurisprudenz. Eine Vereinigung der Begriffsjurisprudenz mit historischen Untersuchungen versuchte Georg Friedrich Puchta.

Im Kern ist die Begriffsjurisprudenz noch vernunftrechtlich geprägt. Sie nahm Einfluss auf die Ur- und Gesetzesväter des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB),[1] wie Bernhard Windscheid. Sie diente der Einengung von Auslegungsmöglichkeiten. Nach Auffassung von Karl Larenz[2] lässt sich der methodische Ansatz als „Begriffspyramide“ darstellen, als ein System, dem er eine „eigentümliche Zwischenstellung“ attestierte.[3]

Begriffspyramide, Inversionsmethode und Kritik

Grundlage der Begriffsjurisprudenz ist die Anwendung der Logik auf das Recht. Die Methode sollte darin bestehen, dass einerseits über einfachen positiven Normen ein Begriffssystem errichtet wird, das die gebündelten Rechtsgrundsätze eines Rechtsinstituts wiedergibt und andererseits dabei hilft, verallgemeinerte Rechtsgrundsätze herauszuarbeiten und zu Rechtsprinzipien zu gestalten. Differenziert wird dabei nach dem „einzelnen Rechtssatz“, dem „Institut“ und dem „Gesamtsystem“.[4][5] Dabei wird der volksgeistige Institutsbegriff Friedrich Carl von Savignys, der in seiner Rechtsschule noch als Teil der Sachordnung verstanden wurde, gegen die pragmatische Definition ausgetauscht (Construction).

Rechtssätze und -begriffe sollten mit Hilfe der Construction mathematisch-geometrisch in ein lückenloses und widerspruchsfreies System übergeführt werden. Aus diesem sollte mithilfe von Obersätzen, Definitionen und Subsumtionen eine juristische Entscheidung gefällt werden können.[6] Deshalb trennt das Programm zwischen „niederer“ und „höherer“ Jurisprudenz. Auf der niedereren Ebene sollen die einfachen Rechtssätze, die bloße Rechtsstoffe sind, interpretiert werden, auf der höheren Ebene sollen die Begriffe konstruiert werden. Ein subjektives Recht definiert sich im letzteren Sinne nach Subjekt, Objekt und Rechtsinhalt, erhält einen konkreten Klagschutz und steht in einem Zusammenhang mit seiner tatbestandlichen Begründung, seinem tatbestandlichen Untergang und Einflussfaktoren wie Bedingungen. Neben einer besseren Übersicht über das Rechtssystem soll gewährleistet werden, dass Lücken im Gesetzesrecht geschlossen werden. Jhering erhoffte sich von der Methode, dass man „durch das römische Recht über das römische Recht hinaus“ gelangte.

Die Kritiker der „Begriffsjurisprudenz“ (insbesondere der spätere Jhering, daneben Heck und Rümelin) attackierten insbesondere die auf dieses logische System angewandte „Inversionsmethode“, mit welcher „aus existierenden positiven Normen, neues – und system-fremdes – Recht erschaffen“ würde.[7] Obgleich alle Rechtssätze in einem logischen Begriffszusammenhang stünden, der als Erkenntnisquelle noch unbekannter Rechtssätze zu dienen geeignet sei, behaupteten die Kritiker, dass die „Begriffsjurisprudenz“ für rechtsschöpferisches Tätigwerden und Einzelfallgerechtigkeit des Richters keinen Raum ließe.[8] Johannes Emil Kuntze empfand das methodische System als zu naturwissenschaftlich, eine Kritik, die bis heute nachwirkt.[9][4]

Wie Hans-Peter Haferkamp[10] mit Blick auf Puchta nachweisen konnte, berücksichtigten dessen Arbeiten in vielerlei Hinsicht praktische Bedürfnisse. Ebenso nimmt Haferkamp Windscheid gegen die „schwerwiegenden Anklagen“ in Schutz, da er als Vertreter und Symbol die Interessenjurisprudenz vorbereitet habe.[8] Joachim Rückert[11] und Marc Heidemann[12] stellen klar, dass in der Methodik Windscheids Elemente der „Begriffsjurisprudenz“, wie sie Jhering in Scherz und Ernst in der Jurisprudenz deklarierte,[13] gerade nicht vorhanden waren. Maximiliane Kriechbaum findet „applikative Elemente“, d. h. einzelfallgerechtigkeitsorientierte Ermessensspielräume bereits bei der Historischen Rechtsschule Friedrich Carl von Savignys.[14] Die Kritik an der Begriffsjurisprudenz hinge insoweit nicht unerheblich mit dem allgemeinen Missverständnis der Methodik Savignys zusammen. Die Abwertung der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, vorangetrieben vornehmlich durch die Pandektistik und deren (mehrheitlich polemische[10][12]) Titulierung als „Begriffsjurisprudenz“ könne nach Haferkamp somit als widerlegt angesehen werden.

Heute wird der Begriffsjurisprudenz im Ergebnis bescheinigt, dass sie „sorgfältige Kleinarbeit“ geleistet habe. Dabei habe sie bisweilen die kompliziertesten und am schwierigsten zugänglichen Rechtsfiguren des bürgerlichen Rechts geschaffen. Gleichwohl seien auch diese gründlich durchdacht worden. Zeugnis davon legen insbesondere Institute des Sachenrechts ab, beispielsweise das dingliche Vorkaufsrecht, die Hypothek und die Vormerkung.[15]

Bis zur Jahrtausendwende ins 20. Jahrhundert bestimmte die Begriffsjurisprudenz die deutsche Rechtswissenschaft. In der Zeit änderte sich auch das Verhältnis der juristischen Dogmatik zur Rechtsgeschichte. Jhering selbst und andere Anhänger der Dogmatik waren davon ausgegangen, dass eine seit Jahrtausenden arbeitende Jurisprudenz alle juristischen Grundbegriffe bereits hervorgebracht hätte, was zu wiederkehrenden Rückgriffen auf alte Rechtsordnungen führte.[16][17] Nach 1900 setzten sich die Interessensjurisprudenz und die Interpretationstheorie der Wertungsjurisprudenz durch.[4]

Rechtliches Umfeld

Im Zivilrecht des 19. Jahrhunderts gab es kaum Gesetze, insbesondere keine, die den Ansprüchen des Vorbilds der Historischen Rechtsschule gerecht geworden wären. Das führte zur Konstruktion des Pandektenrechts, mittels dessen die historisch ohnehin legitimierten Grundlagen des römischen Rechts herangezogen wurden. Andererseits hatte das moderne Naturrecht zuletzt etliche Begrifflichkeiten logisch und systematisch zu definieren geholfen, sodass sich methodische Überlegungen anstellen ließen, das Recht auf dieser Entwicklungsstufe, begleitet durch die Denkströmungen der exakten Naturwissenschaften, in einen begrifflichen Positivismus überzuleiten. Der sollte es leisten, die dann noch bestehenden Gesetzeslücken mittels der Reinheit der Begrifflichkeiten und seinen Abstraktionen sinnvoll so zu schließen, dass dem Richter rechtsschöpfender Handlungsspielraum entzogen wäre.

Die soziale Frage hingegen war aus dem Recht konsequent ausgeschlossen worden. Nachdem aus der Begriffsjurisprudenz sich erst zaghaft, dann forscher, die Interessensjurisprudenz zu etablieren begann, änderte sich die Einstellung wieder. Diese verlangte nämlich, dass gesellschaftliche und wirtschaftliche Zwecke ins Recht einbezogen würden. Damit war der Weg für eine neue Disziplin, die Rechtssoziologie, geebnet. Diese setzte sich vollends in Widerspruch zur pandektistischen Begriffsjurisprudenz, was in der Forschung allerdings zu unterschiedlichen Bewertungen führte, soweit allein nur die unterschiedlichen Interpretationen bei Eugen Ehrlich und Max Weber miteinander verglichen werden.[6]

Begriffsjurisprudenz als verfehlte Auslegungsmethode

In dem obengenannten zweiten Sinne wird Begriffsjurisprudenz – abwertend – als eine auch heute noch verbreitet anzufindende Methode der Auslegung von Gesetzen bezeichnet, die sich rein formal an den im Gesetz vorzufindenden Ausdrücken ausrichtet, ohne dass nach dem Sinn des Gesetzes gefragt wird.[18] Gesetze dienen jedoch dazu, einen bestimmten Zweck zu verwirklichen, weshalb alle Merkmale in einem Gesetz so auszulegen sind, dass sie diesem Zweck entsprechen. So verstanden, haben Ausdrücke in einem Gesetz keine „Bedeutung an sich“, sondern immer nur im Hinblick auf den Gesetzeszweck.[19]

Als heute abschreckendes Beispiel wird häufig die „Eisenbahn-Entscheidung“ des Reichsgerichts genannt.[20] Das Reichsgericht hatte selbst einen Begriff von Eisenbahn entwickelt und diesen Begriff dann in einem Fall angewandt, in dem es darum ging, ob die Eisenbahngesellschaft auch für einen Unfall durch eine Eisenbahn-Lore haftet. Ob der Begriff „Eisenbahn“ auch die Eisenbahn-Lore umfasst, kann bezweifelt werden. Ausdrücke in einem Gesetz sind aber nicht nach dem Sprachverständnis in der Umgangssprache zu verstehen, sondern als juristische Fachausdrücke. Hier war nach dem Zweck des Reichshaftpflichtgesetzes zu entscheiden, und in demselben Urteil findet sich neben der formalen Definition auch eine an diesem Zweck ausgerichtete Definition von Eisenbahn.

Literatur

  • Ulrich Falk: Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz. 2. Auflage, Frankfurt am Main 1999 (Ius Commune. Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 38), ISBN 978-3-465-03027-0.
  • Marc Heidemann: Windscheid und die Begriffsjurisprudenz. Die Pandektendogmatik im späten 19. Jahrhundert. Grin Verlag, Norderstedt 2015, ISBN 978-3-668-08101-7.
  • Thomas Henkel: Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2004 (zugleich: Dissertation, Universität Jena 2002/2003), ISBN 3-412-06504-8.
  • Paul Oertmann: Interesse und Begriff in der Rechtswissenschaft. A. Deichertsche Verlagsbuchhandlung Dr. Werner Scholl, Leipzig 1931.
  • Joachim Rückert: Methodik des Zivilrechts – Von Savigny bis Teubner. Nomos, 2012.
  • Jan Schröder: Begriffsjurisprudenz. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2. Auflage. Band I, Berlin 2008, ISBN 978-3-503-07912-4, S. 500–502.
  • Walter Wilhelm: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1958.
  • Hans-Peter Haferkamp: Begriffsjurisprudenz. In: Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, 2011 (online).
  • Rolf Wank: Von der Begriffsjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz. In: Juristische Methodenlehre, Franz Vahlen, München 2020, ISBN 978 3 8006 4945 7, §§ 2, 8.

Einzelnachweise

  1. Helmut Coing: Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen. 13. Bearbeitung und Neubearbeitungen, 1993 ff. (1995), ISBN 3-8059-0784-2, Einl. 177 zum BGB.
  2. Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 6. Auflage, Springer, Berlin 1991, ISBN 3-540-52872-5, S. 19 ff.
  3. Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 6. Auflage, Springer, Berlin 1991, S. 29.
  4. 4.0 4.1 4.2 Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914. München 1989, § 7, S. 47–49.
  5. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre. Franz Vahlen, München 2020, § 2.
  6. 6.0 6.1 Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4, Rn. 293; Rolf Wank: Juristische Methodenlehre. Franz Vahlen, München 2020, § 2.
  7. Marc Heidemann: Windscheid und „Begriffsjurisprudenz“. Grin Verlag, Norderstedt 2015, ISBN 978-3-668-08101-7, S. 5 mit Verweis auf Oertmann, Interesse und Begriff. S. 75; ebenso interpretierend: Kipp, in: Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, § 24, Fn. 2: „Diese [Begriffsjurisprudenz] erschafft durch die Konstruktion von neuen Begriffen aus existenten Begriffen, lebensfremd und system-missbräuchlich, neue Normen, entgegen des [sic!] ‚Rechtsganzen‘ beziehungsweise entgegen des [sic!] ‚Geistes‘ des Rechts, um ein vom Konstrukteur erwünschtes, jedoch systemfremdes Ergebnis zu erreichen. Das Ziel dieser Kritik liegt darin (so auch Oertmann, Heck und Rümelin), vor den Gefahren zu warnen, die darin liegen, Rechtsbegriffe durch die sogenannte und unzulässige ‚Inversionsmethode‘ missbräuchlich zu nutzen, um neues positives Recht zu erzeugen.“
  8. 8.0 8.1 Ulrich Falk: Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz. Frankfurt am Main 1989 (Ius Commune, Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Europäische Rechtsgeschichte, Sonderhefte, 38).
  9. Johannes Emil Kuntze: Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft, ein Beitrag zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand und Zielpunkt derselben. Leipzig 1856.
  10. 10.0 10.1 Hans-Peter Haferkamp: Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“. Klostermann, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-465-03327-2.
  11. Joachim Rückert: Methodik des Zivilrechts – Von Savigny bis Teubner. 2012.
  12. 12.0 12.1 Marc Heidemann: Windscheid und „Begriffsjurisprudenz“. Grin Verlag, 2015, ISBN 978-3-668-08101-7.
  13. Rudolph von Jhering: Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1884, S. 337 (Nachdruck: Max Leitner (Hrsg.): Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Linde, Wien 2009, ISBN 978-3-7093-0281-1).
  14. Maximiliane Kriechbaum: Römisches Recht und neuere Privatrechtsgeschichte in Savignys Auffassung, in: Zimmermann/Knütel/Meincke, Rechtsgeschichte und Privatrechtsgeschichte. S. 58.
  15. Hans Hermann Seiler: Geschichte und Gegenwart im Zivilrecht. Heymanns, Köln 2005, ISBN 978-3-452-25387-3, S. 267.
  16. So beispielsweise Ernst Immanuel Bekker: Zweckvermögen, insbesondere Peculium, Handelsvermögen und Aktiengesellschaften. In: ZHR 4 (1861), S. 499–567.
  17. Ferdinand Regelsberger griff für Treuhandsgeschäfte beispielsweise auf das altrömische Institut der fiducia (vergleiche insoweit: actio fiduciae) zurück.
  18. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre. Franz Vahlen, München 2020, § 2.
  19. Zu juristischen Definitionen: Rolf Wank: Juristische Methodenlehre. Franz Vahlen, München 2020, § 8.
  20. RGZ, Band 1, S. 247 ff.