Disiecta membra beziehungsweise membra disiecta (lat.) bedeutet „versprengte Glieder“ und ist ein feststehender Ausdruck für die Bezeichnung der aus ihrer ursprünglichen organischen Ordnung gerissenen Teile eines Ganzen. Er wird fachsprachlich besonders in der Handschriftenkunde und im Buchwesen verwendet, um die verstreute Überlieferung einzelner Bestandteile eines Codex oder Buches zu bezeichnen, ähnlich auch in der Kunstgeschichte für Bestandteile eines Kunstwerks oder Bauwerks, die sich nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zusammenhang befinden.
Der Ausdruck geht zurück auf eine Stelle bei Horaz (Satiren 1,4,62), an der es um die Frage geht, ob der Begriff des Dichterischen schon allein durch die Verwendung eines poetischen Versmaßes im Gegensatz zu Prosa erfüllt werde, oder auch eine bestimmte Qualität der Wörter und Gedanken erfordere. Zur Verdeutlichung des Problems zitiert Horaz eine Stelle aus dem Dichter Ennius und stellt fest, dass bei Umstellung der Wörter und damit Zerstörung von Rhythmus und Versmaß die „disiecti membra poetae“, „des zerrissenen Dichters Glieder“ (d. h. die Wörter seiner Dichtung), nach wie vor als dichterische zu erkennen seien.
Eine sehr wörtliche Auffassung der „disiecti membra poetae“ begegnet in dem Xenion Goethes auf den Homerphilologen Friedrich August Wolf, dessen Infragestellung der alleinigen Autorschaft Homers an den homerischen Epen der Dichter folgendermaßen kommentiert:
- „Sieben Städte zankten sich drum, ihn geboren zu haben;
Nun, da der Wolf ihn zerriss, nehme sich jede ihr Stück.“