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Gerichtsorganisation in Äthiopien

From Wickepedia

Die Gerichtsorganisation in Äthiopien ist entsprechend den pluralistischen Strukturen des Landes komplex: Es bestehen Verfassungsräte,[1] Gerichte des Bundes[2] und der Regionen,[3] religiöse und traditionelle Gerichte,[4] gesellschaftliche Gerichte, Stadtgerichte sowie eine Reihe weiterer spezieller Tribunale. Der amharische Ausdruck für Gericht ist ፍርድ ቤት.

Während die materiellrechtlichen Kodifikationen Äthiopiens kontinentaleuropäischem, insbesondere französischem Vorbild (René David) folgen, orientieren sich Gerichtsorganisation und Prozessrecht eher am angloamerikanischen Recht.

Verfassungsräte

Der Verfassungsrat auf Bundesebene (Council of Constitutional Inquiry, CCI)[5] ist ein gerichtsähnliches Hilfsorgan des Bundeshauses, also des Oberhauses des Parlaments. Er besteht aus elf Mitgliedern, nämlich Präsident und Vizepräsident des Federal Supreme Court, sechs Rechtsexperten und drei Mitgliedern des Bundeshauses. Der Verfassungsrat untersucht Verfassungsstreitigkeiten und legt sie ggf. dem Bundeshaus zur Entscheidung vor.

Auch in den Regionen bestehen entsprechende Einrichtungen; die Entscheidungskompetenz liegt dort bei einer Constitutional Interpretation Commission.[6]

Gerichte des Bundes

Es gibt folgende Bundesgerichte:

  • Federal Supreme Court (FSC; {{Module:Vorlage:lang}} Module:ISO15924:97: attempt to index field 'wikibase' (a nil value), ፌ/ጠ/ፍ/ቤት; deutsch Oberstes Bundesgericht)[7]
  • Federal High Court (FHC; የፌዴራል ከፍተኛ ፍርድ ቤት, ፌ/ከ/ፍ/ቤት; Bundesobergericht)
  • Federal First Instance Court (FFIC; የፌዴራል የመጀመሪያ ደረጃ ፍርድ ቤት, ፌ/መ/ደ/ፍ/ቤት; Bundesgericht erster Instanz).

Die Gerichtsbarkeit des Bundes ist nach US-amerikanischem Vorbild geregelt[8] und gegeben

  • in Rechtssachen, deren Gegenstand nach bestimmtem Bundesrecht zu entscheiden ist[9]
  • in Rechtssachen, bei denen bestimmte Personen beteiligt sind, insbesondere Personen aus verschiedenen Regionen, Ausländer oder die Bundesregierung[10]
  • in Rechtssachen aus den beiden Bundesstädten[11]
  • in Rechtssachen aus den Regionen bei der Kassation durch den FSC.[12]

Erstinstanzlich ist grundsätzlich der Federal First Instance Court zuständig, jedoch

  • der Federal High Court
    • in Zivilsachen, deren Streitwert 500.000 Birr übersteigt oder die das Internationale Privatrecht, Fragen der Staatsangehörigkeit oder die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen zum Gegenstand haben[13]
    • in Strafsachen, die Taten gegen den Nationalstaat, die innere Sicherheit, ausländische Staaten, das Völkerrecht oder den Luftverkehr sowie Drogendelikte oder Gruppenkonflikte betreffen;[14]
  • der Federal Supreme Court
    • in Strafsachen, die von Amtsträgern der Bundesregierung oder von Repräsentanten ausländischer Staaten begangen wurden.[15]

Rechtsmittel sind die Berufung (ይግባኝ) vor dem FHC[16] und dem FSC[17] und die Kassation (ሰበር) vor dem FSC.[18] Kassationsentscheidungen des FSC haben seit 2005 über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung.[19]

Außerhalb der Bundesstädte ist grundsätzlich die Gerichtsbarkeit des FFIC an den High Court der Region und die des FHC an den Supreme Court der Region delegiert.[20] In den schwächeren Regionen Afar, Benishangul, Gambella, Somali und der SNNPR jedoch entscheidet der FHC selbst.[21]

Arbeitssprache der Bundesgerichte ist Amharisch.[22]

Gerichte der Regionen

Auch die Gerichtsbarkeit der Regionen ist dreistufig aufgebaut mit

  • Supreme Court
  • High Court
  • Woreda/District Court,[23]

wobei Supreme Court und High Court gegebenenfalls auch Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben (siehe oben).

Gesellschaftliche Gerichte

Unter den genannten Gerichten ist auf Ebene der Gemeinde (ቀበሌ) das gesellschaftliche Gericht (social court; ማህበራዊ ፍርድ ቤት) angesiedelt. Es entscheidet über weniger bedeutsame Zivil- und Strafsachen und ist somit den Schiedsämtern in Deutschland vergleichbar. Berufung geht an die Bundes- bzw. Regionalgerichte.[24]

Ähnlich verhält es sich mit dem Labour Relations Board (የአሠሪና ሠራተኛ ጉዳይ ወሳኝ ቦርድ).[25]

Religiöse Gerichte

Als religiöse Gerichte im Sinne der Verfassung[4] bestehen Scharia-Gerichte (የሸሪዓ ፍርድ ቤቶች) für familien- und erbrechtliche Angelegenheiten des muslimischen Teils der Bevölkerung,[26] der etwa 40 % ausmacht. Sie sind in der Regel dreistufig organisiert, beispielsweise für die beiden Bundesstädte als

  • Federal Supreme Court of Sharia
  • Federal High Court of Sharia
  • Federal First Instance Court of Sharia.[27]

Sie treten in den bezeichneten Angelegenheiten an die Stelle der Bundes- bzw. Regionalgerichte. Voraussetzung ist, dass die Prozessbeteiligten der Scharia-Gerichtsbarkeit zugestimmt haben.[28]

Traditionelle Gerichte

Wie bei den religiösen Gerichten erfordert die Gerichtsbarkeit der traditionellen Gerichte (customary courts) die Zustimmung der Prozessbeteiligten. Anders als jene werden die traditionellen Gerichte jedoch nicht durch staatliches Recht geregelt, sondern staatlicherseits nur allgemein anerkannt. Die Bezeichnungen dieser Gerichte sind vielfältig, beispielsweise Älteste (ሽማግሌ) bei den Amhara.[29]

Stadtgerichte

In Städten, bestehend jeweils aus einem oder mehreren Kebeles mit Körperschaftsstatus, sind zum Teil Stadtgerichte (city courts; የከተማ ፍርድ ቤቶች) eingerichtet, beispielsweise in den Bundesstädten[30] oder in der Region Oromia.[31] Ihre Zuständigkeit kann sich etwa auf Verwaltungssachen, Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und kleinere Strafsachen erstrecken. In den Bundesstädten sind diese Gerichte zweistufig organisiert mit First Instance Court und Appelate Court sowie Kassationsmöglichkeit beim FSC.

Weitere Gerichte

Es bestehen weitere spezielle Gerichte, im Bund zum Beispiel

  • Intellectual Property Tribunal (የአእምሯዊ ንብረት ትሪቡናል)[32]
  • Tax Appeal Commission (የታክስ ይግባኝ ኮሚሽን)[33]

mit Rechtsmittel zum Federal High Court und

  • Civil Servants Administrative Tribunal (የመንግሥት ሠራተኞች አስተዳደር ፍርድ ቤት)[34]
  • Militärgerichte erster und zweiter Instanz (ቀዳሚ ወታደራዊ ፍርድ ቤት, ይግባኝ ሰሚ ወታደራዊ ፍርድ ቤት)[35]

mit Rechtsmittel zum Federal Supreme Court.

Geschichte

Gerichtsverfassung von 1942 bis 1974

Nach dem Ende der italienischen Besatzung erging die Administration of Justice Proclamation. Sie sah folgenden sechsstufigen Gerichtsaufbau vor:

  1. Supreme Imperial Court (ጠቅላይ የንጉሠ ነገሥት ፍርድ ቤት, mit dem አፈ ንጉሥ als oberstem Richter[36])
  2. High Court (ከፍተኛ ፍርድ ቤት)
  3. Provincial Court (ጠቅላይ ግዛት ፍርድ ቤት)
  4. Regional Court (አውራጃ ግዛት ፍርድ ቤቶች)
  5. District Court (ወረዳ ግዛት ፍርድ ቤት)
  6. Sub-District Court (የምከትል ወረዳ ግዛት ፍርድ ቤት).[37]

Zusätzlich wurden 1942 Kadi-Gerichte[38] als Vorgänger der Scharia-Gerichte und 1947 örtliche Richter (አጥቢያ ዳኛ)[39] als Vorgänger der gesellschaftlichen Gerichte eingerichtet.

Zur Zeit der Föderation zwischen Äthiopien und Eritrea (1952–1962) fungierten der Supreme Imperial Court auch als Federal Supreme Court, der High Court auch als Federal High Court.[40]

In der Strafprozessordnung von 1961[41] und in der Zivilprozessordnung von 1965[42] fanden Provincial Court und Sub-District Court keine Erwähnung mehr. Provincial Court und High Court wurden zusammengelegt, und der Sub-District Court entfiel, so dass eine vierstufige Gerichtsbarkeit entstand.

Throngerichtsbarkeit (Zufan Chilot) bis 1974

Im äthiopischen Kaiserreich gab es die Möglichkeit, einen Fall nach Erschöpfung des Rechtswegs dem Kaiser zur Entscheidung vorzulegen. Diese Throngerichtsbarkeit (ዙፋን ችሎት, englisch zumeist Zufan Chilot) wurde in den Verfassungen von 1931 und 1955 nicht ausdrücklich erwähnt, ließ sich aber aus den verfassungsrechtlich[43] abgesicherten Prärogativen des Kaisers herleiten und fand ihren einfachgesetzlichen Ausdruck in der Strafprozessordnung von 1961[41] (Art. 183) wie der Zivilprozessordnung von 1965[42] (Art. 322, 361–370). Der Kaiser bediente sich im Rahmen seiner Throngerichtsbarkeit zweier Hilfsorgane bzw. -verfahren: Die Anträge durchliefen zunächst eine gerichtliche Untersuchung (ፍርድ ምርመራ) mit Verwerfung oder Entscheidungsempfehlung an den Kaiser. Wollte der Kaiser von sich aus weitere rechtliche Expertise in Anspruch nehmen, gab es hierfür die Kassationsanhörung (ሰበር ሰሚ).[44] Die Throngerichtsbarkeit endete mit dem sozialistischen Umsturz 1974.

Gerichtsverfassung von 1975 bis 1991

Das realsozialistische Derg-Regime erließ bereits 1975 eine neue Administration of Justice Proclamation;[45] es blieb bei dem vierstufigen Gerichtsaufbau.[46] Neu waren die 1981 eingerichteten Sondergerichte.[47] Im Zusammenhang mit der Verfassung von 1987[48] wurden Bestimmungen neu gefasst[49] und eine Militärgerichtsbarkeit geschaffen.[50] 1989 entstanden die gesellschaftlichen Gerichte.[51]

In der Übergangszeit ab 1991 bildete sich der föderale Gerichtsaufbau heraus.[52]

Literatur

Rechtsquellen

Rechtsprechung

Einzelnachweise

  1. im Bund: Verfassung der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien von 1994, Proclamation No. 1/1995 (im Folgenden: Bundesverfassung), Art. 82–84
  2. Bundesverfassung, Art. 50 (2), Art. 78 (2)
  3. Bundesverfassung, Art. 50 (2) und (7), Art. 78 (3)
  4. 4.0 4.1 Bundesverfassung, Art. 34 (5), Art. 78 (5)
  5. cci.gov.et; Council of Constitutional Inquiry Proclamation No. 298/2013
  6. Beispiel Amhara: Revised Constitution, Proclamation No. 59/2001, Art. 70–72; Beispiel Oromia: Revised Constitution, Proclamation No. 46/2001, Art. 67–69
  7. fsc.gov.et; zur Präsidentin wurde 2018 Meaza Ashenafi ernannt
  8. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 3: vgl. US-Verfassung, Art. 3 Sec. 2 und für den Bundesbezirk Art. 1 Sec. 8
  9. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 4 (Strafsachen), Art. 5 (5)–(10) (Zivilsachen)
  10. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 5 (1)–(4)
  11. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 11 (1)(b), 12 (2), 14 (2), 15 (2)
  12. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 10 (3)
  13. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 11
  14. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 12
  15. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 8
  16. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 13
  17. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 9
  18. Bundesverfassung, Art. 80 (3)(a); Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 10, 22
  19. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 10 (4) in der Fassung durch Proclamation 454/2005
  20. Bundesverfassung, Art. 78 (2), Art. 80 (2) und (4)
  21. Federal High Court Establishment Proclamation No. 322/2003
  22. Federal Courts Proclamation No. 25/1996, Art. 25
  23. Beispiele: Amhara National Regional State Courts Proclamation No. 11/2006; Oromia Regional State Courts Proclamation No. 216/2018, Art. 9
  24. Beispiel Oromia: Revised Constitution, Proclamation No. 46/2001, Art. 101 und Proclamation 128/2007
  25. Labour Proclamation No. 377/2003, Art. 144–156; vgl. die Labour Relations Proclamation 210/1963, ferner die Konfliktkommissionen in der ehemaligen DDR
  26. Katrin Seidel: Rechtspluralismus in Äthiopien: Interdependenzen zwischen islamischem Recht und staatlichem Recht (2013; Inhaltsverzeichnis)
  27. Federal Courts of Sharia Consolidation Proclamation No. 188/1999, Art. 3
  28. Bundesverfassung, Art. 34 (5); Federal Courts of Sharia Consolidation Proclamation No. 188/1999, Art. 5; zum recht bekannten Fall Kedija Bashir (ከድጃ በሽር) CCI (2003): Journal of Constitutional Decisions, Bd. 1 Nr. 1, S. 35 und Girmachew Alemu Aneme: The coupling of state and sharia justice systems in a secular state: the case of Ethiopia, SFB-Governance working paper series No. 75 (2018), S. 12
  29. Judit Prigge: Friedenswächter: Institutionen der Streitbeilegung bei den Amhara in Äthiopien, SFB-Governance working paper series No. 28 (2012)
  30. Addis Ababa City Government Revised Charter Proclamation No. 361/2003, Art. 41–45; The Diredawa Administration Charter Proclamation No. 416/2004, Art. 33–37
  31. Proclamation No. 195/2015, Art. 38
  32. Copyright and Neighbouring Rights Protection Proclamation No. 410/2004, Art. 44 in der Fassung durch Proclamation No. 872/2014
  33. Federal Tax Administration Proclamation No. 983/2016, Art. 56, 86–94
  34. Federal Civil Servants Proclamation No. 1064/2017, Art. 79–82
  35. Defence Forces Proclamation No. 27/1996, Art. 25–36
  36. zu Ketaw Yitateku (ቅጣው ይታጠቁ) als oberstem Richter vor 1974 siehe Ayele Woubshet Ayele: The selected judgments of Chief Justice Kitaw Yitateku (2019?)
  37. Administration of Justice Proclamation 2/1942, geändert durch Proclamation 102/1948, Art. 2; Haile Abraha Mehari: The working of the Ethiopian federal judiciary (2019), S. 36 ff.
  38. Kadis Courts Proclamation 12/1942; Naiba and Kadis Councils Proclamation 62/1944
  39. Establishment of Local Judges Proclamation 90/1947
  40. Federal Judiciary Proclamation 130/1952; Hans Arnold: Die Zivilrechtspflege in Äthiopien, in: RabelsZ JSTOR:27874116
  41. 41.0 41.1 Criminal Procedure Code of Ethiopia, Proclamation 185/1961
  42. 42.0 42.1 Civil Procedure Code, Decree 52/1965
  43. siehe etwa Art. 16 der Verfassung von 1931, Art. 35 der Verfassung von 1955
  44. Robert Allen Sedler: Invalid: stable/ID. In: Journal of African law 8 (1964) S. 59–76
  45. Administration of Justice Proclamation No. 52/1975
  46. vgl. Haile Abraha Mehari: The working of the Ethiopian federal judiciary (2019), S. 51 ff.
  47. Special Court Establishment Proclamation No. 215/1981
  48. Constitution of the PDRE, Art. 100 ff.
  49. z. B. Supreme Court Establishment Proclamation No. 9/1987; Proclamation No. 24/1988 (High Court, Awraja Court)
  50. Military Courts Establishment Proclamation No. 10/1987
  51. Social Courts Establishment Proclamation No. 37/1989
  52. Central Transitional Government: Transitional Period Charter, No. 1/1991, Art. 9(f) und Central Government Courts Establishment Proclamation No. 40/1993; National/Regional Self-Governments: Proclamation No. 7/1992, Art. 24