Der Jugendgemeinderat oder auch Jugendstadtrat ist ein demokratisch legitimiertes, überparteiliches Gremium auf kommunaler Ebene, das die Interessen der Jugend in der Stadt oder Gemeinde gegenüber (Ober-)Bürgermeister, Gemeinderat und Stadtverwaltung vertritt. Das passive und aktive Wahlrecht haben zumeist Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Jugendgemeinderäte sind eine insbesondere in Baden-Württemberg weit verbreitete Form der Jugendpartizipation,[1][2][3], die gegenüber anderen Beteiligungsformen durch Kontinuität und Verbindlichkeit gekennzeichnet ist.
Die Landesregierung von Baden-Württemberg führte in einer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion der Grünen im Landtag zur Rolle von Jugendgemeinderäten aus:
„Jugendgemeinderäte sind gut geeignet, die Bedürfnisse von Jugendlichen in die Kommunalpolitik einzubringen. Durch Jugendgemeinderäte sind die Jugendlichen in ihrer Gemeinde formell vertreten. Als Ansprechpartner bieten sie die Möglichkeit, Wünsche, Anregungen und Verbesserungsvorschläge von Jugendlichen in die Politik zu befördern. So können alle Jugendlichen am Gemeinwesen mitwirken. Insofern bieten Jugendgemeinderäte allen Jugendlichen Partizipationsmöglichkeiten in der politischen Willensbildung vor Ort und haben eine wichtige gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Jugendgemeinderäte werden direkt von den Jugendlichen demokratisch gewählt und vertreten somit auch verschiedene Altersgruppen und Schularten. Jugendliche können in den Gemeinden bei Planungen und Vorhaben, die ihre Interessen berühren, in angemessener Weise einbezogen werden. Die gewählten Jugendlichen bekommen einen tieferen Einblick in die Kommunalpolitik und lernen Verantwortung zu übernehmen und ihre Positionen in der Öffentlichkeit zu vertreten. Als Jugendgemeinderäte können Jugendliche sowohl reale Erfahrungen der Beteiligung sammeln als auch im politischen Rahmen mitwirken. Damit wird bei Jugendlichen eine verlässliche Grundlage für den Aufbau demokratischer Orientierungen und Kompetenzen ausgebildet und sie lernen, verantwortungsbewusst zu handeln.“
Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg
Geschichte
Der erste Jugendgemeinderat Deutschlands wurde 1985 in Weingarten gegründet. Der erste Jugendgemeinderat in Urwahl wurde 1987 in Filderstadt gewählt. Vorbilder waren die französischen „conseils des jeunes“ und das Jugendparlament im belgischen Waremme. In den darauf folgenden Jahren wurden in zahlreichen weiteren Städten im Südwesten Jugendgemeinderäte eingerichtet. Diese Welle von Neugründungen mündete 1993 in die Gründung des Dachverbandes der Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg, dessen Ziele gemäß Satzung die Vertretung der kommunalen Gremien auf Landesebene, die Hilfestellung für Städte und Gemeinden bei der Einrichtung weiterer Jugendgemeinderäte sowie die Organisation des Erfahrungsaustausches zwischen den Jugendparlamenten sind. Der Dachverband der Jugendgemeinderäte hat daneben seit seiner Gründung auch landesweite politische Kampagnen initiiert, unter anderem zur Verkehrs- und Bildungspolitik. Die Gründung des Dachverbandes hat seit den 1990er Jahren zu einem rapiden Anstieg der Zahl der Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg geführt. Im Jahr 2005 existierten in 89 von 1110 Kommunen entsprechende Gremien.
Wahlsysteme
Die Rahmenbedingungen für die Einrichtung des Jugendgemeinderats werden vom Gemeinderat der Kommune festgelegt. In der überwiegenden Zahl der Städte und Gemeinden werden die Mitglieder des Jugendgemeinderats für zwei Jahre gewählt. In der Regel gilt das aktive und passive Wahlrecht für alle Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren, die ihren Wohnsitz in der Gemeinde haben; wahlberechtigt sind also auch Jugendliche ohne deutschen Pass. Unterschieden wird zwischen mehreren Wahlmodi. Häufigstes Modell ist die Urwahl, bei der alle Jugendlichen der Gemeinde zur Wahl aufgerufen sind. Seltener wird eine Schulwahl durchgeführt, bei der nur Schülerinnen und Schüler wahlberechtigt sind. In manchen Fällen ist die Zahl der Jugendgemeinderatsmitglieder je Schule bereits im Vorfeld quotiert. Ein Delegiertenprinzip, wonach Schulen, Vereine und andere Institutionen Vertreter in den Jugendgemeinderat entsenden, wird aufgrund des Demokratiedefizits kaum praktiziert.
Politische Arbeit
Ähnlich wie der Gemeinderat kommt auch der Jugendgemeinderat regelmäßig zu Sitzungen zusammen. Den Vorsitz übernimmt entweder ein Mitglied des Gremiums oder der (Ober-)Bürgermeister. Auf der Tagesordnung stehen zumeist sowohl Themen, die auf Initiativen aus der Mitte des Jugendgemeinderats hervorgehen, als auch Punkte, die seitens des Gemeinderats oder der Stadtverwaltung zur Beratung an den Jugendgemeinderat herangetragen werden. Der Jugendgemeinderat hat beratende Funktion in Jugendangelegenheiten, aber keine bindende Entscheidungskompetenz. In fast allen Kommunen ist die formale Beteiligung des Jugendgemeinderats in dessen Satzung festgelegt, zumeist wird den Jugendlichen ein Rede- und Antragsrecht gegenüber dem Gemeinderat eingeräumt.
Gesetzliche Grundlage
Die Einrichtung eines Jugendgemeinderats ist nicht verpflichtend. In der baden-württembergischen Gemeindeordnung ist der Jugendgemeinderat als Beteiligungsmodell aber explizit vorgesehen:
§41a Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
(1) Die Gemeinde soll Kinder und muss Jugendliche bei Planungen und Vorhaben, die ihre Interessen berühren, in angemessener Weise beteiligen. Dafür sind von der Gemeinde geeignete Beteiligungsverfahren zu entwickeln. Insbesondere kann die Gemeinde einen Jugendgemeinderat oder eine andere Jugendvertretung einrichten. Die Mitglieder der Jugendvertretung sind ehrenamtlich tätig.
(2) Jugendliche können die Einrichtung einer Jugendvertretung beantragen. Der Antrag muss in Gemeinden mit bis zu 20 000 Einwohnern von 20, in Gemeinden mit bis zu 50 000 Einwohnern von 50, in Gemeinden mit bis zu 200 000 Einwohnern von 150, in Gemeinden mit über 200 000 Einwohnern von 250 in der Gemeinde wohnenden Jugendlichen unterzeichnet sein.
Der Gemeinderat hat innerhalb von drei Monaten nach Eingang des Antrags über die Einrichtung der Jugendvertretung zu entscheiden; er hat hierbei Vertreter der Jugendlichen zu hören.
(3) In der Geschäftsordnung ist die Beteiligung von Mitgliedern der Jugendvertretung an den Sitzungen des Gemeinderats in Jugendangelegenheiten zu regeln; insbesondere sind ein Rederecht, ein Anhörungsrecht und ein Antragsrecht vorzusehen.
(4) Der Jugendvertretung sind angemessene finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Über den Umfang entscheidet der Gemeinderat im Rahmen des Haushaltsplans. Über die Verwendung der Mittel ist ein Nachweis in einfacher Form zu führen.
In der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung ist die sogenannte Jugendvertretung in § 56 b GemO und teilweise in § 56 a GemO geregelt.
Themen
Inhaltlich befassen sich die Jugendgemeinderäte mit allen Facetten des kommunalen Lebens, sofern es jugendliche Interessen berührt. Hierzu zählen unter anderem die Verbesserung von Jugend-, Sport- und Freizeiteinrichtungen, der öffentliche Personennahverkehr, die Radwegesituation, die Ausstattung der örtlichen Schulen und öffentlicher Einrichtungen wie z. B. der Stadtbücherei sowie die Gewalt- und Suchtprävention. Neben der eigentlichen Gremienarbeiten nutzen Jugendgemeinderäte auch regelmäßig ihre Scharnierfunktion zwischen Jugendlichen und Stadtverwaltung, um mit eigenen Veranstaltungen auf Themen hinzuweisen oder Defizite im kommunalen Veranstaltungsangebot auszugleichen. Zumeist verfügt der Jugendgemeinderat über einen eigenen Etat, der für Aktionen und Kampagnen zur Verfügung steht.
Jugendgemeinderäte in anderen Bundesländern
Nach dem baden-württembergischen Vorbild wurden inzwischen auch in zahlreichen Städten und Gemeinden in anderen Bundesländern Jugendgemeinderäte oder vergleichbare Gremien eingerichtet. Deren Zahl ist aber weit niedriger als im Südwesten. In Baden-Württemberg gibt es einen Dachverband, in dem sich die einzelnen Jugendvertretungen beteiligen können. Auch in Bayern gibt es eine landesweite Vertretung. Der rheinland-pfälzische Dachverband hat sich per einstimmigem Beschluss durch die Dachverbandsversammlung am 8. September 2012 in Langenlonsheim aufgrund festgestellter Nichtnotwendigkeit solcher formeller Strukturen selbst aufgelöst. Ein Dachverband auf Bundesebene existiert nicht.
Der § 56b der rheinland-pfälzischen Gemeindeordnung erlaubt es allen Gemeinden, eine Jugendvertretung einzurichten. Die Bezeichnungen sind sehr unterschiedlich (Jugendparlament, Jugendgemeinderat, Jugendforum, u.v.m.). Der Dachverband der Jugendgemeinderäte in Rheinland-Pfalz hat sich am 17. Januar 2010 gegründet und ist ein Zusammenschluss von Jugendvertretungen aus Rheinland-Pfalz (zurzeit Bernkastel-Kues, Morbach, Pluwig, Kaiserslautern und Haßloch).
In Schleswig-Holstein wurden in den vergangenen Jahren ebenfalls immer mehr Jugendvertretungen, die dem baden-württembergischen Konzept nahekommen, eingerichtet, da durch den § 47f der Gemeindeordnung eine Verpflichtung zur angemessenen Beteiligung von Jugendlichen besteht. Der älteste, aktive Jugendrat in Schleswig-Holstein ist der Kinder- und Jugendbeirat Elmshorn, welcher bereits seit 1994 arbeitet. Seit 2017 besteht außerdem die Möglichkeit für diese Beiräte bei einer gemeinsamen zentral organisierten landesweiten Wahll teilzunehmen, um z. B. Ressourcen besser nutzen zu können, aber auch um die Bekanntheit dieser Wahlen zu erhöhen.[4]
Jugendgemeinderäte in anderen europäischen Ländern
In den 70er Jahren wurden in Waremme, Belgien und Schiltigheim, Frankreich die ersten Jugendparlamente gegründet. Weitere folgten in Frankreich, Österreich, Polen, England, Litauen, Italien, Norwegen, Belgien, Finnland, Dänemark, in der Schweiz sowie in den Niederlanden existieren gewählte kommunale Jugendvertretungen in unterschiedlich hoher Dichte. Es gab mehrfach Bestrebungen zur Gründung einer gemeinsamen europäischen Dachorganisation, die allerdings bis heute nicht existiert.
Weblinks
Literatur
- Stromberg, Anja: „Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg und der Schweiz – Dargestellt am Vergleich der Arbeit der Dachverbände“, Diplomarbeit, Kehl, 2005,
- Stange, Waldemar: „Partizipation von Kindern“, in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (aPuZ), Nr. 38, Berlin, 2010.
- Stadt Freiburg: „Beteiligungskonzept Stadt Freiburg“, Gemeinderats Drucksache G-06/115, Freiburg im Breisgau, Anlage 2.
- Servicestelle Jugendbeteiligung: „Jugendparlamente (o.ä.) in Deutschland“, Berlin, 2002.
- Müller, Yvonne: „Studie im Südweststaat Gesetzliche Möglichkeiten zur Beteiligung Jugendlicher nach Gemeindeordnung“ in „Projekt Arbeit“ 2 / 2002, Sersheim.
- Meinhold-Henschel, Sigrid; Schack, Stephan: „Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland — Entwicklungsstand und Handlungsansätze“ in „Jugendhilfe und Schule Handbuch für eine gelingende Kooperation“, Wiesbaden, 2008 DOI:10.1007/978-3-531-90820-5
- Metzger, Renate: „Politische Partizipation von Mädchen und jungen Frauen in den Jugendgemeinderäten Baden-Württembergs – eine empirische Erhebung“, Diplomarbeit, Fachhochschule Esslingen, Esslingen 1996.
- Landtag von Baden-Württemberg: „Drucksache 14 / 6762 vom 28. Juli 2010, Antwort der Landesregierung auf die Anfrage „Konsequenzen Jugendlandtag 2010 – Jugendgemeinderäte stärken“ der Fraktionen der Grünen im Landtag“.
- Krieg, Susanne Eva: „Politische Partizipation durch Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg“. Diplomarbeit, Stuttgart, 2007.
- Hermann, Michael Cornelius: „Jugendgemeinderäte in Baden-Württemberg. Eine interdisziplinäre Evaluation“. Doktorarbeit, Pfaffenweiler 1996.
- Berger, Gundel: „Rechtliche Regelungen zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im kommunalen Raum“, DJI Arbeitspapier Nr. 6 – 151, München, 1998.
- Ade, Klaus: „Teilnahme Jugendlicher am kommunalen Geschehen“, Praxis der Kommunalverwaltung, Baden-Württemberg, Band 2, Seite 195, 2006.
Einzelnachweise
- ↑ vgl. Michael C. Hermann: 30 Jahre Jugendgemeinderäte in Deutschland - Rückblick und Ausblick, in: Aydin Gürlevik u. a. (Hrsg.): Jugend und Politik - Politische Bildung und Beteiligung von Jugendlichen, Springer VS Wiesbaden 2016, S. 338ff.
- ↑ Sebastian Müller und Urs Unkauf: Jugendgemeinderäte in Baden-Württembeg, in: Jörg Tremmel; Markus Rutsche (Hrsg.): Politische Beteiligung junger Menschen, Springer VS Wiesbaden 2016, S. 317ff.
- ↑ Siegfried Frech: Kommunalpolitik, Kohlhammer, Stuttgart 2018, S. 46–49
- ↑ Politische -Bildung in SH. Abgerufen am 17. August 2021 (Lua error in Module:Multilingual at line 149: attempt to index field 'data' (a nil value).).