Lutz Niethammer (* 26. Dezember 1939 in Stuttgart) ist ein deutscher Historiker und Hochschullehrer. Er beschäftigt sich im Besonderen mit deutscher Nachkriegsgeschichte und Oral History, einer Methode der Geschichtsforschung, die durch Befragung von Zeitzeugen versucht, das mündlich überlieferte, subjektive Geschichtsbild einer bestimmten Bevölkerung beziehungsweise bestimmter Milieus (im Gegensatz zu politischen Akteuren) zu rekonstruieren.
Leben
Niethammer studierte Geschichte, evangelische Theologie und Sozialwissenschaften an den Universitäten Heidelberg, Bonn, Köln und München u. a. bei Hans Mommsen. Er wurde 1971 promoviert, Doktorvater war Werner Conze. Nach Lehrstühlen in Essen, an der Fernuniversität in Hagen sowie einer Tätigkeit als Gründungsdirektor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen folgte er 1993 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an die Universität Jena. Gastaufenthalte führten Niethammer an das St Antony’s College in Oxford (1972/73), an das Maison des Sciences de l'Homme in Paris (1978/79), an die Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin (Ost) (1986/87), an das Wissenschaftskolleg zu Berlin (1987/88), an die Universität Basel (1988/89), an das Europäische Hochschulinstitut in Florenz (1988/89) sowie an die Universität Wien (2008/09). Lutz Niethammer wurde 2005 emeritiert. Niethammers Nachfolger auf dem Jenaer Lehrstuhl wurde Norbert Frei. In der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung war Niethammer Berater der Bundesregierung. Zu seinen Schülern gehören Franz Brüggemeier, Ulrich Herbert, Detlev Peukert und Dirk van Laak.
Lutz Niethammer ist seit 2003 Foreign Honorary Member der American Academy of Arts and Sciences. Er ist Träger des Bochumer Historikerpreises. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Diaspora- und Genozidstudien an der Ruhr-Universität Bochum (seit 1998), des Kuratoriums der Gedenkstätte Buchenwald (seit 1993), des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung in Weimar (seit 2002) und des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (seit 2004). Niethammer ist ferner Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung (seit 1978).
Niethammer gilt als ein Wegbereiter der Oral History in Deutschland. Als deutschsprachiges Pionierwerk gilt der erste Band seiner Studie Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960. Band 1: Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet. Er war von 1980 bis 1994 deutscher Vertreter der Oral History Association, von 1990 bis 1992 auch deren Vorsitzender. Er gehört zum Herausgebergremium der Zeitschrift BIOS.
Niethammer ist verheiratet mit der Bochumer Historikerin und Hochschullehrerin Regina Schulte.
Schriften (Auswahl)
Monografien
- Angepasster Faschismus. Politische Praxis der NPD. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1969.[1]
- Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-8108-0142-9.
- Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Rowohlt, Reinbek 1989, ISBN 3-499-55504-2.[2]
- Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Rowohlt, Berlin 1991, ISBN 3-87134-009-X.
- Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Rowohlt, Reinbek 2000, ISBN 3-499-55594-8.[3]
- Ego-Histoire? Und andere Erinnerungs-Versuche. Wien 2002, ISBN 3-205-77085-4.[4]
- Der gesäuberte Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Berlin 1994, wiederholte Aufl., u. a. Akademie, Berlin 2005.
Herausgeberschaften
- (mit Bodo Hombach, Tilman Fichter, Ulrich Borsdorf): „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.“ Dietz, Berlin 1984, ISBN 3-8012-0101-5.
- „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.“ Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet. Dietz, Bonn 1983 (= Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, Bd. 1). ISBN 3-8012-0085-X.
- „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist.“ Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet. Dietz, Bonn 1983 (= Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, Bd. 2). ISBN 3-8012-0090-6.
- (mit Alexander von Plato): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Dietz, Bonn 1985 (= Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, Bd. 3). ISBN 3-80120113-9.
- (mit Roger Engelmann): Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt in der späten DDR. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen/Bristol, Conn. 2014, ISBN 978-3-525-35035-5.
- (mit Silke Satjukow): „Wenn die Chemie stimmt …“. Geschlechterbeziehungen und Geburtenplanung im Zeitalter der „Pille“. Wallstein, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8353-1741-3.
- Tengelmann im Dritten Reich. Ein Familienunternehmen des Lebensmittelhandels und der Nationalsozialismus. Klartext, Essen 2020, ISBN 978-3-8375-1223-6.
Literatur
- Patrick Bahners: Der kontrollierte Vergesellschafter. Zum 70. Geburtstag von Lutz Niethammer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 296, 21. Dezember 2009, S. 30.
Weblinks
- Literatur von und über Lutz Niethammer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Lutz Niethammer: Auf der Suche nach den Erfahrungen des Volkes (Memento vom 27. November 2012 im Webarchiv archive.today)
Einzelnachweise
- ↑ Yves Müller: „Neu gelesen“. »Faschistische Grundstruktur«. Lutz Niethammers Analyse der extremen Rechten (1969). In: Zeithistorische Forschungen 16 (2019), S. 197–205.
- ↑ Rezension: Iring Fetscher, in: Die Zeit, 9. Februar 1990 online.
- ↑ Rezension: Edgar Wolfrum, in: Die Welt, 18. November 2000.
- ↑ Rezensionen: Frank Ebbinghaus, in: SZ, 19. Mai 2003; sowie Klaus Latzel online auf H-Soz-u-Kult.
Personendaten | |
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NAME | Niethammer, Lutz |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Historiker |
GEBURTSDATUM | 26. Dezember 1939 |
GEBURTSORT | Stuttgart |