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Martin Sandberger

From Wickepedia

Martin Sandberger, 1948 in Nürnberg

Martin Karl Sandberger (* 17. August 1911 in Charlottenburg bei Berlin; † 30. März 2010 in Stuttgart[1]) war ein deutscher SS-Standartenführer. Er war als Befehlshaber des Einsatzkommandos 1a sowie Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Estland einer der Protagonisten des Massenmordes an den Juden des Baltikums.

Leben

Jugend und Karriere in der Zeit des Nationalsozialismus

Martin Sandberger wurde in Berlin-Charlottenburg als Sohn eines aus Württemberg stammenden leitenden Angestellten der I.G. Farben geboren. Er wuchs in Berlin und Tübingen auf und studierte von 1929 bis 1933 Jura an den Universitäten München, Köln, Freiburg im Breisgau und schließlich Tübingen.[2]

Zum 1. Dezember 1931 trat er in die NSDAP (Mitgliedsnummer 774.980[3]) und Sturmabteilung (SA) ein. An der Universität Tübingen waren die Nationalsozialisten schon vor der „Machtergreifung“ tonangebend. Sandberger war 1932–1933 Vorsitzender der Tübinger Studentenschaft, 1933 avancierte er zum Hochschulgruppenführer des NS-Studentenbundes (NSDStB) und zum Führer der Studentenschaft in Tübingen. Er promovierte im November 1933 mit der ausgesprochen seltenen Note „sehr gut“ zum Thema Die Sozialversicherung im nationalsozialistischen Staat: Grundsätzliches zur Streitfrage: Versicherung oder Versorgung?

Als Funktionär des NSDStB machte er rasch Karriere und wurde Bundeshochschulinspekteur. 1936 erfolgte der Übertritt von der SA zur Schutzstaffel (SS). Sandberger wurde von Gustav Adolf Scheel für den SD in Württemberg angeworben und war seit 1936 hauptamtlicher Mitarbeiter des SD-Oberabschnitts Südwest. Auch innerhalb des SD machte er eine steile Karriere und wurde schon 1938 SS-Sturmbannführer (Major). Gleichzeitig war er als Bereichsführer Südwest des Reichstudentenführers auch weiterhin für den von Scheel geführten NSDStB tätig.[4]

Am 13. Oktober 1939 hatte ihn Himmler zum Chef der Einwandererzentralstelle Nord-Ost ernannt, deren Aufgabe u. a. die „rassische Bewertung“ deutscher Umsiedler (Heim-ins-Reich-Geholter) war. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde Sandberger als Führer des Einsatzkommandos 1a (neben einem weiteren Tübinger Juristen, Walter Stahlecker) zu einem der Haupttäter des Völkermordes im Baltikum. Sandberger zeigte einen besonderen Eifer; in seinem Jahresbericht vom 1. Juli 1941 meldete er 941 ermordete Juden nach Berlin. Sein „Einsatz“ wurde gewürdigt, am 3. Dezember 1941 wurde er zum Kommandeur der Sicherheitspolizei (SiPo) und des SD in Estland ernannt. Sandberger erscheint seit März 1941 im Geschäftsverteilungsplan des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) als Leiter des Referats I B 3 (Lehrplangestaltung der Schulen). Nach der Besetzung Italiens im September 1943 war er Ende 1943 Chef der SiPo und des SD in Verona unter dem dortigen Befehlshaber der SiPo und des SD für Italien Wilhelm Harster.[5] Ab Januar 1944 war er Leiter der Abteilung VI A (Organisation des Auslandsnachrichtendienstes) im Amt VI des RSHA. (Lit.: Krausnick, Birn, Welzer, Weiss-Wendt)

Nach 1945

Im Einsatzgruppen-Prozess wurde er 1948 zum Tode verurteilt.[6] Sein Verteidiger war Bolko von Stein. Obwohl selbst das Beratergremium des amerikanischen Hochkommissars der neu gegründeten Deutschland, der „Peck Panel“, in diesem Fall für die Aufrechterhaltung des Todesurteils war, wurde Sandbergers Urteil von John McCloy am 31. Januar 1951 in lebenslange Haft geändert.[7]

Sandbergers Vater nutzte nun seine Beziehungen zum Bundespräsidenten Theodor Heuss und dieser wandte sich an den damaligen US-Botschafter James Bryant Conant mit der Bitte um Begnadigung. Zahlreiche württembergische Honoratioren wie der Justizminister Wolfgang Haußmann und der Landesbischof Martin Haug machten sich für Sandberger stark. Selbst der renommierte Jurist und Vizepräsident des Deutschen Bundestages Carlo Schmid kümmerte sich um den Landsberg-Gefangenen. Rechtsanwalt Hellmut Becker setzte sich für ihn ein und vertrat ihn im Revisionsprozess.[8][9] Das Engagement für Sandberger zeigte Wirkung, am 9. Mai 1958 kam er frei.

Anschließend erhielt er durch Vermittlung von Bernhard Müller eine Stelle als Justiziar in der Unternehmensgruppe Lechler. Bis zum Jahr 1972 war Sandberger wiederholt als Zeuge in NS-Kriegsverbrecherprozessen geladen, so 1958 im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess gegen das „Einsatzkommando Tilsit“. Eine Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaften in München (1962) und Stuttgart (1971/72) wegen seiner Verantwortung für die „Erschießung zahlreicher Personen, darunter Kommunisten, Juden und Fallschirmspringer in den Jahren 1941 – 1943“ (Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Stuttgart im Juni 1971, S. 1 – hier nicht erwähnt ist die Gruppe der Zigeuner) wurde eingestellt. Die Begründung war, dass Sandberger bereits 1948 in dem Verfahren vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verurteilt wurde. Damit sei eine Strafverfolgung durch deutsche Justizbehörden gemäß dem Vertrag zur Regelung der aus Krieg und Besatzung bestehenden Fragen von 1955, dem sog. Überleitungsvertrag, ausgeschlossen (vgl. Bundesarchiv B 162/5199 S. 26). Sowohl der Zwei-Plus-Vier-Vertrag im Zuge der Wiedervereinigung 1989 als auch die Öffnung der Archive nach der Unabhängigkeit Estlands 1991 haben keine neuen Dokumente zu Tage gefördert, jedenfalls sind keine in der Forschung erwähnt (vgl. Birn). Nach seiner Freistellung führte Sandberger ein ruhiges Leben als Rechtsberater und Mitglied der Geschäftsleitung der Lechler-Gruppe, einem heute in Metzingen ansässigen Hersteller von industriellen Sprühsystemen.

Im Zusammenhang mit dem Prozess gegen John Demjanjuk erschien im Spiegel am 3. April 2010 ein Artikel,[10] der ein breites Medienecho fand. Sandberger, einer der letzten hochrangigen NS-Verbrecher, starb am 30. März 2010 in Stuttgart in einem Pflegeheim.

Literatur

  • Ruth Bettina Birn: Die Sicherheitspolizei in Estland 1941-1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006, ISBN 978-3-506-75614-5.
  • Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland und die NS-Vergangenheit, München 1996, ISBN 3-406-42557-7.
  • Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Band 6). Synchron, Heidelberg 2004, ISBN 3-935025-68-8, S. 144.
  • Hillary Earl: The Nuremberg SS-Einsatzgruppen Trial, 1945 – 1958. Cambridge 2009.
  • Ernst Klee: „Martin Sandberger“ Eintrag in ders.: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Aktualisierte Ausgabe. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-596-16048-0, S. 519.
  • Christian Ingrao: Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmordes. Übers. Enrico Heinemann & Ursel Schäfer. Propyläen, Berlin 2012 ISBN 9783549074206; wieder Bundeszentrale für politische Bildung BpB, Bonn 2012 ISBN 9783838902579 (zuerst Paris 2010).
  • Helmut Krausnick: Hitlers Einsatzgruppen – Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938 – 1942. Frankfurt 1989. ISBN 3-596-24344-0.
  • Walter Mayr: Halbgott in Feldgrau. In: Der Spiegel Nr. 14/3. April 2010.
  • Michael Ruck: Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972. Oldenbourg, München 1996, ISBN 978-3-486-56197-5.
  • Andreas Strippel: „...zu allem zu gebrauchen“ – Die Karriere des Dr. Martin Sandberger. In: Mati Laur, Karsten Brüggemann (Hrsg.): Forschungen zur baltischen Geschichte. Nr. 9 (2014), Akadeemiline Ajalooselts, Tartu 2014, ISSN 1736-4132, S. 274–284 (PDF).
  • James Waller: Becoming Evil. How Ordinary People Commit Genocide and Mass Killing. Oxford 2007. ISBN 978-0-19-518093-0.
  • Anton Weiss-Wendt: Murder Without Hatred. Syracuse 2009. ISBN 978-0-8156-3228-3.
  • Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Fischer, Frankfurt 2007. ISBN 978-3-596-16732-6.
  • Michael Wildt: Generation des Unbedingten – Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburger Edition, Hamburg 2003, ISBN 3-930908-87-5, S. 785–790.

Weblinks

Commons: Martin Sandberger – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  • Literatur von und über Martin Sandberger im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • Jost Nolte: Das Lächeln der SS. In: welt.de. 1. Juni 2002;.
  • Martin Sandberger. In: olokaustos.org. Archiviert vom Original am 28. Dezember 2012; (Lua error in Module:Multilingual at line 149: attempt to index field 'data' (a nil value)., Biographie und Bilder von Sandberger).
  • Michael Wildt: Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus – Tübinger Exekutoren der „Endlösung“. Archiviert vom Original am 29. Mai 2012; (Vorlesung, Videoaufzeichnung).
  • Walter Mayr: Nazi-Verbrecher Sandberger: Blutspur ins Altersheim. In: Der Spiegel (online). 7. April 2010;.

Einzelnachweise

  1. Walter Mayr: Halbgott in Feldgrau. In: Der Spiegel Nr. 14/3. April 2010
  2. Michael Wildt: Generation des Unbedingten – Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburger Edition, Hamburg 2003, ISBN 3-930908-87-5.
  3. Einsatzgruppen Case: Redirect Examination (Defense) of Martin Sandberger. In: International Military Tribunal (Hrsg.): Nuremberg Transcripts. Band 38. University of North Dakota, 17. November 1947, S. 2419 (und.edu [abgerufen am 1. März 2023]).
  4. Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Band 6). Synchron, Heidelberg 2004, ISBN 3-935025-68-8, S. 144.
  5. Andreas Strippel: „...zu allem zu gebrauchen“ – Die Karriere des Dr. Martin Sandberger. S. 282.
  6. Hilary Earl, The Nuremberg SS-Einsatzgruppen Trial, Cambridge 2009, ISBN 978-0-8156-3228-3.
  7. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland und die NS-Vergangenheit, München 1996, ISBN 3-406-42557-7.
  8. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister, München 2009, ISBN 978-3-406-59225-6, S. 404.
  9. Annette Weinke: Adenauerzeit (Teil 2). Die Volksgemeinschaft wird Republik. Die Zeit, 40, 24. September 2009
  10. Walter Mayr: Halbgott in Feldgrau. In: Der Spiegel Nr. 14, 3. April 2010