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Richteranklage

From Wickepedia

Das Institut Richteranklage soll die Verfassungstreue der Richter sowohl im als auch außerhalb des Dienstes und damit deren „demokratische Zuverlässigkeit“ gewährleisten.[1] Sie ergänzt das Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne einer gegenseitigen Kontrolle und ist Ausdruck der streitbaren Demokratie des Grundgesetzes.[2]

Normierung

Art. 98 Grundgesetz bestimmt unter anderem:

(2) Wenn ein Bundesrichter im Amte oder außerhalb des Amtes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes verstößt, so kann das Bundesverfassungsgericht mit Zweidrittelmehrheit auf Antrag des Bundestages anordnen, daß der Richter in ein anderes Amt oder in den Ruhestand zu versetzen ist. Im Falle eines vorsätzlichen Verstoßes kann auf Entlassung erkannt werden.
(5) Die Länder können für Landesrichter eine Absatz 2 entsprechende Regelung treffen. Geltendes Landesverfassungsrecht bleibt unberührt. Die Entscheidung über eine Richteranklage steht dem Bundesverfassungsgericht zu.

Grundsätzliches

Nach den Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus war der Parlamentarische Rat bestrebt, die Rechtsprechung mit den Prinzipien des Grundgesetzes in Einklang zu bringen, sie als dritte Gewalt in das System der checks and balances zu integrieren und ihr dadurch eine stärkere demokratische Legitimation zu verleihen.[3] Die Norm wird daher als Bestandteil der grundgesetzlichen Konzeption der streitbaren und wehrhaften Demokratie von einer verfassungspolitischen Grundsatzentscheidung getragen. Die Bestimmung setzt voraus, dass Richter jederzeit, auch außerhalb des Dienstes, eine Treuepflicht gegenüber den Grundsätzen des Grundgesetzes unterliegen.[1]

„Zu den in Art. 33 Abs. 5 GG genannten hergebrachten und zu beachtenden Grundsätzen des Berufsbeamtentums und des Richterrechts gehört der Grundsatz, daß vom Beamten und Richter zu fordern ist, daß er für die Verfassungsordnung, auf die er vereidigt ist, eintritt.“

BVerfGE 39, 334 (346)

Die Richteranklage ist gewissermaßen ein Gegenstück zur richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG), deren Missbrauch sie verhindern soll. Die richterliche Unabhängigkeit wird durch sie nicht eingeschränkt, da die Bindung an das Recht immanente Grenze der garantierten Unabhängigkeit ist. Zugleich sind die Hürden des Verfahrens bewusst hoch angesetzt, sodass wirklich nur bei Ablehnung und Bekämpfung des Kerngehalts des Grundgesetzes anwendbar ist.[1]

Voraussetzungen

Voraussetzung einer Richteranklage ist ein Verstoß gegen „die Grundsätze der Verfassung oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes“. Carlo Schmid, der Vorsitzende des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats, sagte: „Es genügt nicht, daß ein Richter formaldemokratisch urteilt, sondern sein Urteil muß von den Wertmaßstäben, die den Kern der Demokratie ausmachen, getragen sein“.[4] Unter diesem Kern der Demokratie, den Grundsätzen des Grundgesetzes, wird allgemein dasselbe verstanden, dass das Grundgesetz an andere Stelle als freiheitlichen demokratischen Grundordnung bezeichnet.[5]

Im Gegensatz zum Parteiverbot wird nicht verlangt, dass der Richter in aggressiv-kämpferischer Weise freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen hat.[5]

Anwendungsbereich

Die Richteranklage findet kraft der Bestimmungen des Grundgesetzes nur auf Bundesrichter Anwendung. Für Landesrichter können die Länder in ihren Verfassungen ein entsprechendes Verfahren vorsehen.[6] Von dieser Möglichkeit haben alle Länder außer Berlin, Bayern und dem Saarland Gebrauch gemacht.[7]

Auf ehrenamtliche Richter und Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts findet die Richteranklage keine Anwendung. Für das Bundesverfassungsgericht besteht nach § 105 Abs. 2 BVerfGG die Möglichkeit zur "Selbstreinigung".[8]

Anklage und Verfahren

Das Verfahren kann bei Bundesrichtern vom Bundestag mit einfacher Mehrheit eingeleitet werden. Die Länder dürfen in ihren Verfassungen nur "entsprechende Regelungen" (Art. 98 Abs. 5 Satz 1 GG) aufnehmen, sodass grundsätzlich nur eine Entscheidung durch das jeweilige Landesparlament möglich ist. Die Länder können die Hürden jedoch höher setzen und beispielsweise eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit verlangen. So braucht beispielsweise der Landtag von Nordrhein-Westfalen eine qualifizierte Mehrheit zur Anklageerhebung. Etwas anderes gilt nur für Landesverfassungsrecht, das älter als das Grundgesetz ist und das gemäß Art. 98 Abs. 5 Satz 2 GG weitergilt. So kann in Rheinland-Pfalz der Ministerpräsident den Generalstaatsanwalt anzuweisen, Anklage zu erheben. In Bremen kann auch der Senat oder der Justizsenator im Einvernehmen mit dem Richterwahlausschuss den Antrag stellen. In Hessen der Justizminister im Einvernehmen mit dem Richterwahlausschuss.[9]

Die Entscheidung über die Anklage liegt in allen Fällen beim Bundesverfassungsgericht. Hier gilt auch älteres Landesverfassungsrecht nicht weiter.[9][10]

Das Verfahren ist der Verfassungsprozessrecht (Deutschland) nachempfunden. Für ein Verurteilung ist – wie auch dort – eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die Richteranklage ist das einzige Verfahren, wo dieses Mehrheitserfordernis unter den Verfassungsrichtern im Grundgesetz selbst festgeschrieben ist. Für die Präsidentenanklage geschieht dies einfachrechtlich.

Rechtsfolgen

Der angeklagte Richter kann (theoretisch) auch bei Fahrlässigkeit durch das Urteil in ein anderes Amt oder in den Ruhestand versetzt werden. Im Parlamentarischen Rat wurde lange und heftig diskutiert, ob der Verfassungsverstoß nur bei Vorsatz im Wege der Richteranklage geahndet werden sollte. Dies hat im Kompromiss gemündet, dass nur bei Vorsatz die Entlassung in Betracht kommt.[11]

Bedeutung

Das Institut der Richteranklage hat keine praktische Bedeutung und wurde noch nie angewandt.[12] Sie hat jedoch symbolische[12] und systematische Bedeutung.

Die Norm darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass Richter nur im Wege der Richteranklage aus dem Amt entfernt werden können. Richter, die durch rechtskräftiges Urteil zu einer Freiheitsstrafe von einer gewissen Höhe verurteilt wurden oder denen das Recht zur Bekleidung öffentlicher Ämter entzogen wird, verlieren automatisch ihr Richteramt (vgl. § 24). Ebenso können Richter einem gerichtlichen (!) Disziplinarverfahren unterworfen werden (vgl. § 64).

Einzelnachweise

  1. 1.0 1.1 1.2 Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 33 f. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0
  2. Artikel 98, in: Bruno Schmidt-Bleibtreu, Franz Klein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Luchterhand, Darmstadt 1983, S. 1030
  3. Bundeszentrale für politische Bildung, Gerichte, Legitimation und Kontrolle
  4. BVerfGE 5, 85 (141)
  5. 5.0 5.1 Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 35 f. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0
  6. Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 40. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0
  7. Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 46. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0
  8. Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 41 f. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0
  9. 9.0 9.1 Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 45. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0
  10. Richteranklage, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, Beck, München 1987, S. 950
  11. Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 39. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0
  12. 12.0 12.1 Christian Hillgruber: Art. 98 Rn. 47. In: Theodor Mauz / Günter Dürig (Begr.): Grundgesetz-Kommentar. 93. Auflage, Verlag C.H.Beck München 2020. ISBN 978-3-406-45862-0