Sittlichkeit ist ein Begriff der Ethik. Im philosophischen Sprachgebrauch versteht man darunter die Übereinstimmung des Denkens und Handelns mit dem Sittengesetz aufgrund einer freien Entscheidung. Gemeint ist ein von positiven Gesetzen und Konventionen unabhängiges, als objektiv existierend und überzeitlich betrachtetes „Gesetz“, das in manchen philosophischen Lehren als Teil einer verpflichtenden Natur- oder Seinsordnung betrachtet wird. In diesem Sinn bedeutet Sittlichkeit die Orientierung an Normen wie dem Guten oder dem Gerechten.
Allgemeinsprachlich bezeichnet Sittlichkeit ein „sittliches“ Empfinden und Verhalten, das heißt Orientierung an herkömmlichen Regeln der Moral, deren Einhaltung zwecks Wahrung der „guten Sitten“ gefordert wird.
Allgemeine Begriffsverwendung
Sittlichkeit im allgemeinsprachlichen Sinn soll aus der Sicht ihrer Befürworter dem Egoismus Grenzen setzen und ein sozial wünschenswertes Verhalten fördern. Kritiker der in einer Gesellschaft vorherrschenden Moral bringen dagegen vor, es handle sich um das Bestreben, die Privilegien bestimmter Bevölkerungsgruppen zu wahren, indem man den anderen Gesellschaftsmitgliedern Rechtfertigungsideologien aufzwinge. Wie alle sozialen Phänomene ist auch der mit Sittlichkeit gemeinte Sachverhalt in ständigem Wandel begriffen.
In manchen Fällen wird eine „offizielle“ Sittlichkeit von gesellschaftlichen Entscheidern repressiv festgelegt und beschneidet oder deformiert die Werteauffassungen einer ganzen Gesellschaftsgruppe, z. B. der sittliche Katalog für Frauen in fundamentalistischen Gemeinschaften jeglichen Glaubens.
In traditionell männerbestimmten Gesellschaften wird den Frauen stets mehr Sittlichkeit (vor allem sexuelle) abverlangt. Männliche Vergehen gegen die Sittlichkeit (z. B. Bestechlichkeit oder Fremdgehen) werden eher milder geahndet als Verstöße von Frauen. Die Frauen sind in der gesellschaftlichen Ordnung für das generelle Funktionieren aller basalen Vorgänge des Alltags eher verantwortlich, diese wiederum sind stark abhängig vom Einhalten des sittlichen Kanons. So umfasst der religiös begründete Begriff der Sittlichkeit Forderungen nach Keuschheit und ehelicher Treue, Redlichkeit und Frömmigkeit.
Juristische Begriffsverwendung
Im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland wurden bis 1973 unter dem Begriff „Straftaten gegen die Sittlichkeit“ die Sexualdelikte aufgeführt, sowohl sexuelle Gewalt- und Missbrauchstaten, als auch Delikte, mit denen die Sexualität auf einen engen, gesellschaftlichen Rahmen beschränkt werden sollte, in erster Linie auf den ehelichen Beischlaf. 1973 wurde dieser Abschnitt in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umbenannt; in diesen Zeitraum fällt auch die Aufhebung oder Entschärfung rein normativer Strafgesetze, so gegen Homosexualität und Kuppelei (Große Strafrechtsreform).
1952 betonte Staatsanwalt Fritz Bauer im Remer-Prozess, dass eine eidliche Verpflichtung auf unbedingten Gehorsam gegenüber einer Person unsittlich und auch nach nationalsozialistischem Recht ungesetzlich und damit ungültig gewesen sei. Zudem betonte er: „Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr.“[1] Das Urteil in diesem Prozess rehabilitierte die Attentäter vom 20. Juli 1944.
Siehe auch
Literatur
- Roberto Finelli: Sittlichkeit. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Band 3, Meiner, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1999-2, S. 2473–2476.
- Wolfgang Kersting: Sittlichkeit; Sittenlehre. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Schwabe, Basel 1995, Sp. 907–923.
Weblinks
- Bernard Gert, Joshua Gert: The Definition of Morality. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Anmerkungen
- ↑ Der Anwalt des Widerstands, taz, Lokalteil Nord vom 29. August 2012, abgerufen am 29. August 2012.