Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zählt zu den bekanntesten Erzählungen Jesu im Neuen Testament.[1] Das Gleichnis wird im Evangelium des Lukas (Lk 10,25–37 EU) überliefert und gilt als Appell zur tätigen Nächstenliebe.
Gattung
In der Exegese wird die Geschichte im Allgemeinen nicht als Gleichnis, sondern als Beispielerzählung angesehen.[2] Gelegentlich wird davon ausgegangen, dass sie sich aus einem Gleichnis entwickelt habe.[3] Eine Beispielerzählung stellt – anders als ein Gleichnis – eine nicht alltägliche Begebenheit dar. Sie lädt „den Hörer zur Identifikation und zum Verstehen [ein] … Das Bild führt die gemeinte Sache an einem konkreten praktischen Fall vor“.[4] Damit ist die Beispielerzählung eine Sonderform der Parabel; bei der Parabel ist allerdings „die Sache“ selbst nicht Gegenstand des Bildes („Konterdetermination“).[5]
Inhalt
Ein Schriftgelehrter stellt Jesus die Frage, was zum Erwerb des ewigen Lebens zu tun sei. Jesus fragt ihn nach den diesbezüglichen Aussagen der Tora. Darauf zitiert der Schriftgelehrte das Schma Jisrael als das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis mit der Aufforderung zur Gottesliebe (Dtn 6,5 EU) und verbindet es mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 EU):
„Höre Israel, der Ewige ist Gott, der Ewige ist einzig. (Dtn 6:4) Gepriesen sei Gottes ruhmreiche Herrschaft immer und ewig! (mJoma 6:2) Darum sollst du den Ewigen, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (Dtn 6:5)“
„Du sollst dich nicht rächen, auch nicht Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes. Liebe deinen Nächsten, wie du dich selbst liebst. Ich, der Ewige.“
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“
Auf Jesu Aufforderung, so zu handeln, um zu leben, fragt ihn der Schriftgelehrte, wer denn sein Nächster sei. Daraufhin entfaltet Jesus die Beispielerzählung:
Ein Mann auf dem Weg von Jerusalem hinab nach Jericho geriet unter die Räuber, die ihn ausplünderten und schwerverletzt liegen ließen. Ein vorüberkommender Priester sah den Verletzten und ging weiter, ebenso ignorierte ihn ein Levit. Schließlich sah ein Samaritaner den verletzten Mann, erbarmte sich, versorgte dessen Wunden und transportierte ihn auf dem Reittier zur Herberge. Dort gab er am folgenden Morgen dem Wirt zwei Denare und beauftragte ihn mit der weiteren Pflege, verbunden mit der Zusage seiner Wiederkehr und der Erstattung weiterer Kosten.
Anschließend fragt Jesus, wer von den dreien dem Überfallenen der Nächste gewesen sei. Der Schriftgelehrte erkennt den Sachverhalt und antwortet, dass es der Samaritaner gewesen sei. Daraufhin fordert Jesus ihn auf, ebenso wie jener zu handeln.
Struktur
Das Gleichnis gehört zum lukanischen Sondergut. Die Struktur des Gleichnisses entspricht der Midrasch-Einleitung des pharisäischen Judentums, allgemein also der traditionellen jüdischen Auslegung religiöser Texte[8]:
- einleitende Frage zu einem Schrifttext (Verse 25–27 EU: Dtn 6,5 EU, Lev 19,18 EU)
- zweiter Schrifttext (Vers 28 EU: Lev 18,5 EU)
- Auslegung mittels Beispielerzählung (Verse 28–36 EU)
- Schlussbemerkung, mit Anspielung auf den Ausgangstext und oft mit Aufforderung zum Tun (Vers 37 EU)
Deutung
Die Geschichte spielt an einem realen Ort: auf dem beschwerlichen, etwa 27 km langen, öden Teilstück des damaligen Haupthandelsweges zwischen Afrika und Asien, der zwischen Jerusalem im Gebirge und Jericho im Jordantal liegt. Der erwähnte Abstieg über mehr als eintausend Höhenmeter machte es Händlern schwer und Räubern leicht. Dennoch wurde der Weg viel genutzt.[9]
Für Priester gab es in der Tora die Vorschrift, dass sie sich nicht an der Leiche eines Stammesgenossen verunreinigen durften, abgesehen von den nächsten Verwandten (Lev 21,1 ff. EU). Wenn der Mann tot gewesen wäre, hätte sich der Priester durch eine Berührung wegen Verstoßes gegen dieses Gebot entweiht.
Der Levit war ebenfalls auf dem Weg hinab nach Jericho. Eine allfällige Berührung eines Toten hätte für ihn nach der Tora (Num 19,11 EU) sieben Tage Tame (rituelle Unreinheit) bedeutet, er hätte also am Ziel seines Weges in seiner Heimat keine rituellen Handlungen vornehmen dürfen.
Einige Ausleger vermuten, dass die damaligen Zuhörer angesichts antiklerikaler Strömungen[10] als Nächstes einen israelitischen Laien erwartet hätten, der Barmherzigkeit über eventuelle rituelle Unreinheit gestellt und dem Verletzten geholfen hätte: Die Einzelheiten der Fürsorge für den verwundeten Mann seien nämlich für die damalige Zeit vollkommen realistisch.[8] Allerdings sind antiklerikale Strömungen im Lukasevangelium nicht nachweisbar.[11] Der unerwartete Samaritaner mit seinem Mitgefühl, seiner beständigen Fürsorge von der Wundversorgung über den Krankentransport (den Berg hinauf), die Unterbringung, die Vorkasse, die Ankündigung, wiederzukommen – all diese Ausführlichkeit der Zuwendung gibt dem Gleichnis eine ermunternde bis schockierende Wirkung. Es wird nicht gesagt, ob der Verwundete Jude war, zudem war der Handelsweg international. Im Vordergrund steht also weder eine Grenzen überwindende Tätigkeit, noch eine Tempelschelte gegen Priester und Leviten.[12] Liebe zu Gott wird in der Liebe zum Menschen konkret, womit die ernst gemeinte Eingangsfrage des Pharisäers beantwortet ist.
Die Samaritaner wurden von den damaligen Juden, wie beispielsweise Josephus, einerseits als religiöse Verwandte betrachtet (2 Chr 28,11 EU), aber auch mit den synkretistischen Abkömmlingen des Nordreichs (2 Kön 17,24–41 EU) gleichgesetzt, als Feinde angesehen und zutiefst verachtet (Sir 50,25–26 EU).[13] Mit dem Nächsten war der Volksgenosse gemeint. Das Volk bildete eine Solidargemeinschaft. Andererseits forderte die Schrift die Liebe zu den Fremden ein im Gedenken daran, dass Israel in Ägypten selbst die Existenz eines Fremdlings gelebt hatte. Die Frage des Schriftgelehrten konnte in der Tradition der halachischen Midrasch schnell beantwortet werden: Es sind alle Israeliten und alle Vollproselyten.[14] Kurz zuvor in den Jahren 6 und 9 n. Chr. hatten die Samaritaner den Tempelplatz zu Jerusalem in den Tagen des Pascha-Festes durch Ausstreuen menschlicher Gebeine verunreinigt, somit konnten sie keine Nächsten sein.[15] Jesus nun befragt den Pharisäer mit der Beispielerzählung provokant zum Verhältnis von Tat und Täter: Die Frage, was die Tora in Lev 19,18 mit dem Begriff Nächster meint, ist demnach nicht zu beantworten, indem das Objekt, der Hilfsbedürftige, bestimmt wird. Wer mein Nächster ist, entscheidet sich umgekehrt vom Subjekt her: der Helfende (Samariter) wird dem Bedürftigen zum Nächsten.
Allegorische Deutungen
Bereits in der frühen Christenheit kam dem Gleichnis zentrale Bedeutung zu. Man deutete es allegorisch, wonach man unter dem unter die Räuber Gefallenen den Menschen schlechthin (Adam) verstand. Die Stadt Jerusalem galt als das Paradies, und Jericho als die Welt. Die Räuber waren die feindlichen dämonischen Mächte. Der Priester verkörperte das Gesetz, der Levit die Propheten und der Samariter Christus. In den geschlagenen Wunden sah man den Ungehorsam, im Reittier den Leib des Herrn, unter der Herberge die Kirche, die alle aufnimmt, die hinein wollen, im Herbergswirt das Haupt der Kirche, dem Schutz und Pflege der Gäste oblag. In der zugesagten Wiederkehr des Samariters das verheißene Wiedererscheinen Christi.[16]
Wirkungsgeschichte
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter verließ auf Grund seiner Dramatik bald seinen frühchristlich-innerjüdischen Zusammenhang. Nächstenliebe wurde nicht zuletzt durch diese Erzählung zu einer universellen Tugend; Nächstenliebe und Samariterdienst wurden bis ins Sprichwortgut zu Synonymen.
Der Arbeiter-Samariter-Bund wie der Schweizerische Samariterbund erscheinen als ein prominentes Erbe dieses Namens im deutschen Sprachbereich.
Im englischen Sprachraum verwendet die Organisation Samaritan’s Purse die Anspielung auf die Geldbörse des Samariters (Lk 10,35 EU) um Hilfsprojekte in aller Welt durchzuführen.
Im angelsächsischen Rechtsbereich kennt man das „Good Samaritan Law“, das das Recht für den Hilfeleistenden regelt.
Beim Vatikan ist die Gute-Samariter-Medaille die höchste Medaille für Arbeit im Gesundheitswesen.[17]
Bildende Kunst
Der Barmherzige Samariter ist ein sehr beliebtes Thema in der religiösen Malerei. Er wurde unter anderem dargestellt im Codex purpureus Rossanensis (6. Jahrhundert) und im Evangeliar Heinrichs des Löwen (12. Jahrhundert),[18] von Jost Ammann (16. Jahrhundert), Meister des Barmherzigen Samariters (1537, Notname), Rembrandt van Rijn (1632/33),[19][20] Johann Carl Loth (1676),[21] von Luca Giordano, George Frederic Watts, Gustave Doré, Gustave Moreau, Vincent van Gogh (1890), Maurice Denis (1898), Aimé-Nicolas Morot (1850–1913) und Paula Modersohn-Becker.[22] Eine Statue von François Sicard steht im Jardin des Tuileries in Paris.
In der Kathedrale von Chartres stellt das dritte rechte Fenster des Hauptschiffs das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter dar.[23]
Musik
Johann Nepomuk David schuf 1958 eine Evangelienmotette für vierstimmigen gemischten Chor a cappella zur Perikope mit dem Titel Der barmherzige Samariter.
Benjamin Britten schuf 1963 die Cantata misericordium op. 69 für Solisten, Chor und Kammerorchester.
Samarithan, ein Lied von Candlemass auf dem Album Nightfall, wendet die Problematik auf die heutige Zeit an.
Bob Dylan lässt den barmherzigen Samariter in seinem Songepos Desolation Row von 1965 auftreten. Hier verortet er die gescheiterte Nächstenliebe in den Rassenunruhen, die sich 1920 im Heimatort seines Vaters ereigneten.
Literatur
Siehe auch die Abschnitte in den einschlägigen Kommentaren (Bovon, Bock, Eckey u. a.) und der allgemeinen Literatur zu den Gleichnissen Jesu.
- Ivan Illich: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley. Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Trapp. Beck, München, ISBN 3-406-54214-X, S. 52–55 u. 74–83.
- Walter Jens (Hrsg.): Der barmherzige Samariter. Kreuz, Stuttgart 1973, ISBN 3-7831-0413-0.
- Joachim Jeremias: Die Gleichnisse Jesu. Göttingen 1956 u. Kurzausgabe 19849.
- Hans Klein: Barmherzigkeit gegenüber den Elenden und Geächteten. Studien zur Botschaft des lukanischen Sonderguts. BThSt 10; Neukirchen-Vluyn 1987.
- Leonhard Ragaz: Die Gleichnisse Jesu. Seine soziale Botschaft. Gütersloh 19853.
- Walter Schmithals: Das Evangelium nach Lukas. Zürcher Bibelkommentare. Neues Testament 3.1; Zürich 1980.
- Gerhard Schneider: Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 1–10. Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar 3/1, Gütersloh 19842.
- Luise Schottroff: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2005, ISBN 3-579-05200-4.
- Hermann Leberecht Strack, Paul Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch.
- Band 1: Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch. München 19869 (= 19262), ISBN 3-406-02723-7.
- Band 2: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte erläutert aus Talmud und Midrasch. München 19899 (= 19231)
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Alexander Foitzik: Eine barmherzige Kirche. In: SWR2 Wort zum Tag. SWR, 13. Oktober 2011, abgerufen am 11. August 2019: „Und Jesus hat mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter geantwortet – dem wohl bekannteste Bibeltext zum Thema Barmherzigkeit.“
- ↑ So zum Beispiel Jürgen Roloff: Arbeitsbuch zum Neuen Testament; Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1984, S. 101; Heinrich Zimmermann: Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der historisch-kritischen Methode. Katholisches Bibelwerk Stuttgart 19827 ISBN 3-460-30027-2, S. 146.
- ↑ Hans Klein: Barmherzigkeit gegenüber den Elenden und Geächteten, S. 76.
- ↑ Jürgen Roloff: Arbeitsbuch zum Neuen Testament, S. 101
- ↑ Kurt Erlemann: Gleichnisse (NT). In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff., abgerufen am 12. Juni 2012.
- ↑ Jonathan, Rabbiner (Hsgb.), in Zusammenarbeit mit Rabbiner Walter Homolka ; Übersetzung aus dem Hebräischen, Annette Böckler Magonet: [Seder ha-tefilot] = Das jüdische Gebetbuch. Dt. Erstausg. Auflage. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997, ISBN 3-579-02216-4, S. 87 ff.
- ↑ W. Gunther (Hrsg.). Mit einer Einleitung von Walter Homolka. Autorisierte Übersetzung und Bearbeitung von Annette Böckler Plaut: Wajikra = Ṿa-yiḳra = Levitikus. 3. Auflage, 1. Auflage der Sonderausg. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, ISBN 978-3-579-05494-0, S. 194 ff.
- ↑ 8.0 8.1 Craig Blomberg: Die Gleichnisse Jesu. Ihre Interpretation in Theorie und Praxis, Die zehn Jungfrauen; Witten: R. Brockhaus, 1998; ISBN 978-3-417-29428-6; S. 167–170
- ↑ Jeremias: Gleichnisse. S. 135
- ↑ Dietfried Gewalt: Der „Barmherzige Samariter“: Zu Lukas 10,25–37; EvTh 38 (1978), S. 403–417
- ↑ Schottroff: Gleichnisse, S. 174.
- ↑ Schottroff: Gleichnisse. S. 173f
- ↑ Vgl. auch Strack/Billerbeck I, S. 538 f.
- ↑ Strack/Billerbeck I, S. 353: „Indem dann das AT Lv 19,34 u. Dt 10,19 nur noch den Fremdling (גֵּר, der unter Israel Wohnsitz genommen) in den Kreis derer miteinschließt, dem Israel mit Liebe begegnen soll, zeigt es, daß mit der Liebe zum Nächsten רֵעַ nicht die allgemeine Menschenliebe gefordert ist, sondern lediglich die Liebe zum Volksgenossen.“
- ↑ Joachim Jeremias: Die Gleichnisse Jesu. 9. Auflage. Göttingen 1984, S. 135.
- ↑ Homilie 34.3, Joseph T. Lienhard, trans., Origenes: Homilies on Luke, Fragments on Luke (1996), 138.
- ↑ Vatican Medal Awarded to English Bishop ( vom 22. Dezember 2007 im Internet Archive)
- ↑ Räuber überfallen den Mann und Auf dem Weg ins Gasthaus
- ↑ Rembrandt
- ↑ Jürgen Müller: Zu einer Poetik der Schwelle. Eine neue Deutung von Rembrandts Radierung "Der barmherzige Samariter" (1633). In: Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München (Hrsg.): Kunstchronik. 74. Jahrgang (2021), Heft 3 (2021), S. 106–120.
- ↑ Johann Karl Loth
- ↑ Paula Modersohn-Becker ( vom 10. Februar 2012 im Internet Archive)
- ↑ Vitraux de Chartres ( vom 3. April 2013 im Internet Archive)