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Kurt Jeserich

From Wickepedia

Kurt Gustav Adolf Jeserich (* 5. Februar 1904 in Wensickendorf; † 12. November 1995) war ein deutscher Kommunalwissenschaftler und -politiker sowie Verlagsdirektor.

Leben und Wirken

Jeserich wurde als Sohn eines Kaufmanns und Fabrikbesitzers (Jeserich AG Asphaltwerke) geboren. Nach dem Abitur 1922 studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in Berlin und legte 1926 sein Examen als Diplom-Volkswirt ab. Er arbeitete bereits seit 1923 als Werkstudent in Industrie und Handel, als Journalist und als Verwaltungsbeamter im Bezirksamt Pankow. Von dort beurlaubt wurde er 1928 Abteilungsleiter am neugegründeten „Kommunalwissenschaftlichen Institut“ der Universität Berlin als Assistent Walter Nordens. Er promovierte 1929 zum Dr. rer. pol. und habilitierte sich 1934 für Staatswissenschaft. Als Norden 1933 wegen seiner „jüdischen Abstammung“ entlassen wurde, trat Jeserich seine Nachfolge als Institutsdirektor an. Gleichzeitig sicherte er sich im Mai 1933 den Posten des „Geschäftsführenden Präsidenten“ des Deutschen Gemeindetages, den er bis 1940 innehaben sollte. Jeserich wurde 1936 außerdem Vizepräsident des Internationalen Gemeindeverbands und gab die Jahrbücher für Kommunalwissenschaft und die Kommunalwissenschaftliche Schriftenreihe heraus. Darin bemühte er sich, eine eigenständige Kommunalwissenschaft zu begründen.

Während des Nationalsozialismus engagierte sich Jeserich zwar stark für kommunalpolitische Belange. So schrieb er 1988, er habe als Geschäftsführender Präsident zahlreiche Versuche der NSDAP und ihrer Gliederungen abgewehrt, den Deutschen Gemeindetag zugunsten des Hauptamtes für Kommunalpolitik der Reichsleitung der NSDAP aufzulösen und bisher kommunale Aufgaben in die Parteiorganisation zu überführen.[1] Allerdings hatte er die Pläne zur Zwangsvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände im Deutschen Gemeindetag im Auftrag des nationalsozialistischen Bürgermeisters von Berlin-Steglitz, Herbert Treff, selbst ausgearbeitet. 1933 erklärte Jeserich auch, die Demokratie sei der „naturgegebene Feind der Selbstverwaltung“.[2] Entgegen der Darstellung des Deutschen Gemeindetags als eines rein fachlichen Interessenverbandes haben neuere Forschungen zudem dessen Funktion bei der Koordination antijüdischer Lokalpolitik aufgezeigt. „Der Gemeindetag“, so fasst es der Historiker Wolf Gruner zusammen, „vertrat eine sehr eigenständige politische Linie in der Judenverfolgung, die sich zu bestimmten Zeiten weit radikaler als die der NS-Führung gebärdete.“[3] Trotzdem wurde gerade Jeserich zum Ziel parteigesteuerter Kritik am Deutschen Gemeindetag. Ihm wurde vorgeworfen, nur ein Opportunist zu sein, der eigentlich an demokratisch-liberalen Überzeugungen festhalte.

Die von ihm wiederholt beantragte Aufnahme in die NSDAP blieb Jeserich zunächst verwehrt. Erst 1940 konnte er der Partei beitreten.[4] Jeserich wurde 1933 aber Mitglied der SS und 1938 zum SS-Untersturmführer im SS-Hauptamt ernannt. Die erhoffte Professur, gegen die unter anderem Martin Bormann Einspruch eingelegt hatte, kam nicht zustande. Hintergrund war, dass Jeserich in einem geheimen Dossier die Nähe zu Norden vorgeworfen wurde, und behauptet wurde, dass er vor 1933 ein Gegner der Bewegung gewesen sei. Er habe eine Unterorganisation des Republikanischen Schutzbundes gegründet. Tatsächlich war Jeserich Mitglied des Republikanischen Kreises gewesen, einer Organisation der Deutschen Staatspartei.

Ab Oktober 1937 übernahm Jeserich leitende Funktionen in der Berliner Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung.

Ende 1938 wurden Jeserich Reden und Veröffentlichungen für den Deutschen Gemeindetag durch den „Stab des Stellvertreters des Führers“ untersagt. Akten und auch seine Personalakte wurden beschlagnahmt. 1939 ließ sich Jeserich von seinen Funktionen entbinden und zur Wehrmacht beurlauben. Das Kriegsende 1945 erlebte er als Hauptmann und Batteriechef einer Heeresartillerieabteilung. In der SS stieg Jeserich 1944 bis zum SS-Sturmbannführer auf.[4]

Bis März 1947 befand sich Jeserich in amerikanischer Gefangenschaft und Internierung. Nachdem er Ende 1947 als „Mitläufer“ entnazifiziert worden war, arbeitete er zunächst als wissenschaftlicher Berater und zwischen 1948 und 1959 als Geschäftsführer des Kohlhammer Verlags. Hier verantwortete er maßgeblich die Publikation der „Deutschen Verfassungsgeschichte“ von Ernst Rudolf Huber.

In der Sowjetischen Besatzungszone wurden Jeserichs Schriften Sozialpolitik (Spaeth & Linde, Berlin 1937), Die deutsche Gemeinde und Lage und Zukunft der deutschen Gemeindefinanzen (beide Kohlhammer, Stuttgart u. Berlin 1938) auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.[5][6]

1960 erwarb Jeserich seinen eigenen Verlag, die G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, den er 1973 an den Kohlhammer Verlag verkaufte. Bereits Ende der 1950er Jahre hatte er mit Unterstützung der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, deren Präsidium er angehörte, das später realisierte Projekt einer „Deutschen Verwaltungsgeschichte“ angeschoben, das allerdings erst in den 1980er Jahren realisiert wurde. Hierbei fungierte er auch als Herausgeber. 1988 bis 1992 gab er im Auftrag des Bundesministeriums des Innern eine Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945 heraus.

Schriften

  • Die Bedeutung der Betriebsüberschüsse für den kommunalen Haushalt. In: Beiträge zur kommunalen Finanzwirtschaft 1930, S. 204–223.
  • mit anderen: Der Volkswirt in der Praxis. Junker und Dünnhaupt, Berlin 1931.
  • Die preußischen Provinzen. Ein Beitrag zur Verwaltungs- und Verfassungsreform. Dt. Kommunal-Verl., Berlin-Friedenau 1931.
  • Die Verwaltungsorganisationen der Bundeshauptstadt Wien. In: Harry Goetz, Kurt Jeserich, Otto Kleine, Albert Zollikofer: Die Verwaltungsorganisation der Weltstädte Paris, London, New York, Wien. Vahlen, Berlin 1931, S. 105–153.
  • Studium und Berufsausbildung des Volkswirts. In: Der Volkswirt in der Praxis 1931, S. 1–29.
  • Die allgemeine Arbeitsdienstpflicht. Idee, Entwicklung, gegenwärtiger Stand und Zukunft. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1932, S. 82–101.
  • Kommunalwissenschaft. Versuch einer Begriffsbildung und Systematisierung. In: Jahrbuch für Kommunalwissenschaft 1934, S. 1–46.
  • Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsbeschaffung. In: Internationaler Kongreß der Städte und Lokalverwaltungen 6, Nr. 2 (1936), S. 23–92.
  • Das kommunalwissenschaftliche Institut an der Universität Berlin. Mit Anhang: Kommunales Schrifttum 1933–1935. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin 1936.
  • Die Kommunalwissenschaft in Lehre und Forschung in den Kulturstaaten der Welt. In: Internationaler Kongreß der Städte und Lokalverwaltungen 6, Nr. 3 (1936), S. 1–54.
  • mit Hans Heinrich Lammers, Hans Pfundtner und Otto Koellreutter: Die Verwaltungs-Akademie. Ein Handbuch für den Beamten im nationalsozialistischen Staat. Spaeth & Linde, Berlin 1936.
  • mit Karl Fiehler: Handbuch der Gemeindeverwaltung. 8 Teile, Jehle, München Berlin 1937.
  • Entwicklungstendenzen der gemeindlichen Selbstverwaltung. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1937, S. 280–309.
  • Internationale Entwicklungstendenzen der Gemeindepolitik. In: Jahrbuch für Kommunalwissenschaft 4, Nr. 2 (1937), S. 283–305.
  • Lage und Zukunft der deutschen Gemeindefinanzen. In: Bericht über die Gründungstagung … und den Tag der Deutschen Wirtschaftswissenschaft. 1937, S. 56–77.
  • Zur Reform der Landkreisverwaltung. Kohlhammer, Stuttgart 1937.
  • mit Hans Arnold: Die deutschen Landkreise. Material zur Landkreisreform. Kohlhammer, Stuttgart 1937.
  • mit anderen: Sozialpolitik. Industrieverlag Spaeth & Linde, Berlin 1937.
  • Die Zukunft der gemeindlichen Selbstverwaltung. In: Jahrbuch für Kommunalwissenschaft 1938, S. 157–186.
  • Zur Reform der Landkreisverwaltung. Kohlhammer, Stuttgart 1938.
  • mit Kurt Buhrow und Fritz Nordsieck: Die Deutsche Gemeinde. [Festschrift des Kommunalwissenschaftlichen Instituts an der Universität Berlin zum zehnjährigen Bestehen 1928–1938]. Kohlhammer, Stuttgart 1938.
  • mit Kurt Otto: Das kommunalwissenschaftliche Institut an der Universität Berlin. Kohlhammer, Stuttgart 1939.
  • mit Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh: Deutsche Verwaltungsgeschichte. 6 Bände, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1983.
  • Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Dt. Verl.-Anst, Stuttgart 1985, ISBN 3-421-061343.
  • mit Helmut Neuhaus (Hrsg.): Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648–1945. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 1991, ISBN 3-17-010718-6.
  • Preußen und Frankreich 1807–1812. Zur Frage der preußischen Kontributionen. In: Wilfried Feldenkirchen (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag. Steiner, Stuttgart 1995, ISBN 3-515-06646-2, S. 150–165.

Literatur

  • Horst Matzerath: Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung. Stuttgart 1970.
  • Helmut Neuhaus: Zwischen Wissenschaft und Praxis. Kurt G. A. Jeserich und die deutsche Verwaltungsgeschichte. In: Helmut Neuhaus (Hrsg.): Verfassung und Verwaltung. FS für Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, Köln 1994, S. 3–29.
  • Hansjörg Gutberger: Volk, Raum und Sozialstruktur. Münster u. a. 1996 (zur NS-Kommunalwissenschaft, S. 163ff.).
  • Wolf Gruner: Die Kommunen im Nationalsozialismus: Innenpolitische Akteure und ihre wirkungsmächtige Vernetzung. In: Sven Reichardt, Wolfgang Seibel (Hrsg.): Der prekäre Staat: Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus. Campus, Frankfurt am Main 2011 (Volltext digital verfügbar), S. 168–211.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. BArch N 1402/59 Nachlass Kurt Jeserich, Jeserich über sich selbst in einem Lebenslauf, 1988.
  2. Kurt Jeserich: Die Gemeinde im nationalsozialistischen Staat. In: Der Gemeindetag 27 (1933), S. 309–311, hier: S. 310.
  3. Wolf Gruner: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942). München 2002, S. 321–322.
  4. 4.0 4.1 Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 287.
  5. http://www.polunbi.de/bibliothek/1946-nslit-i.html.
  6. http://www.polunbi.de/bibliothek/1948-nslit-i.html.